In Mali gibt es nichts mehr zu lachen
Als wir am Morgen im Sand zwischen Gebüschen aus den Schlafsäcken krochen, erblickten wir in nächster Nähe die Häuser des Dorfs. Wir waren am Morgen in Douentza abgefahren und den ganzen Tag Richtung Djenné unterwegs gewesen. Als es längst dunkel geworden war, hatten unsere Fahrer immer noch keinen geeigneten Ort zum Übernachten gefunden. An der Piste bemerkten sie Menschen und hielten an. Die Leute meinten, dass wir ohne weiteres die Nacht in der Gegend verbringen konnten.
Wir waren in Mali im Land der Dogon, deren pittoreske Dörfer mit den kunstvollen Getreidespeichern sich am Fuss der berühmten falaise (Steilhang) und auf dem darüber gelegenen Plateau verteilen.
Die Dorfbewohner schienen entzückt, Fremde zu Besuch zu haben, und forderten uns auf zu bleiben. Wir besuchten der Reihe nach den chef de village, den Lehrer des Orts, der uns dringend um Papier und Schreibzeug für seine Schüler bat, und die Frauen, denen wir beim Weben zuschauten. Wie in einem Bilderbuch erlebten wir das afrikanische Dorfleben, genauso wie ein paar Tage zuvor, als wir wegen einer Panne 24 Stunden an der Busstation einer unbedeutenden Stadt mit Warten verbrachten. On va manger le thô, sagte der Stationsbeamte und lud uns ein, das Mahl mit ihm zu teilen ("thô" ist das traditionelle malische Hirseessen).
In unserem Dorf schlug einer der Ältesten vor, abends für uns Musik zu machen, gegen eine kleine Entschädigung, versteht sich. Wir sagten zu. Die Männer holten ihre Instrumente hervor, die Frauen zogen ihre schönsten Gewänder an, und das Fest konnte beginnen, die Musik, die Tänze. Auch der Pastis floss reichlich. Wahrscheinlich waren die Bewohner mehr Animisten als Muslime.
Als wir uns zur Ruhe legten, hörten wir, wenn wir zwischendurch kurz aufwachten, noch bis in die frühen Morgenstunden in der Distanz das Trommeln und Singen der Menschen.
Die äusserste Einfachheit der Lebensumstände und die Fröhlichkeit, die wir kennen gelernt hatten, machten einen tiefen Eindruck auf uns. Und alles ohne Internetcafé, Parabolantennen, Tiefkühltruhen.
Ich muss in diesen Tagen wieder an Mali denken. Mit den Menschen auszukommen, war nicht immer ganz einfach. Ihre Aufdringlichkeit, Geschäfte zu machen, und ihre servile Art, Forderungen zu stellen, kann einen Europäer ganz schön beanspruchen. Und doch drückte ihr Lachen eine wahre Lebenskunst aus, die es ihnen ermöglichte, mit den Verhältnissen zurechtzukommen.
"Vor Idealisten und ihren Ideen muss
man sich in Acht nehmen."
Seit den eintreffenden Nachrichten über den religiösen Terror der Islamisten in Mali frage ich mich, was aus der Fröhlichkeit geworden ist. Die Gräueltaten lassen das Schlimmste befürchten. 50 Peitschenhiebe für eine öffentlich gerauchte Zigarette sind wenig im Vergleich zu Steinigungen und Gliedamputationen, wie es die Scharia vorsieht. Heilige Stätten, zum Beispiel die Gräber der Marabuts, der islamischen Heiligen, werden zerstört, weil sie angeblich dem reinen, wahren Islam widersprechen. Musik, Film, Alkohol sind als Teil eines weltlichen Lebenswandels verboten. Angst und Trostlosigkeit breiten sich aus. Die Zahl der Flüchtlinge aus dem besetzen Teil des Landes steigt sprungartig an.
Dies alles würde nach dem islamischen Recht geschehen, behaupten die religiösen Eiferer. Das kommt darauf an. Sogar wenn das Recht von ihnen privatisiert und pervertiert worden ist, kann man sich daran halten.
Ich glaube zu wissen, dass viele Muslime diese radikale Form des Islam nicht nur verurteilen, sondern auch fürchten. Wenn die Religionen extremistisch und absolutistisch werden; wenn die Rechtgläubigen, die von der Gottheit Ergriffenen, die sich nie irren, die Macht an sich reissen und ausüben; wenn Gerechtigkeit zum Fanatismus und zur Gnadenlosigkeit verkommt; wenn die Askese zur dominanten Maxime für alle vorrückt – dann drohen finstere Zeiten. Vor Idealisten und ihren Ideen muss man sich in Acht nehmen.
Unterdrückung beginnt stets damit, den Menschen die einfachsten, elementarsten, vitalsten Lebensfreuden zu vermiesen. In Nordmali haben die Islamisten die Religion als Repressionsmaschine eingesetzt. Um Religion geht es ihnen aber kaum, eher um totale (also totalitäre) Machtausübung. Das Gesagte über die Religion gilt in einem erweiterten Sinn für jede geschlossene Herrschaftsform. Man könnte in dem Zusammenhang an das Regime von Pol Pot denken oder an Nordkorea, das wie eine Sekte funktioniert, oder an den Rechtsextremismus in Europa.
Als die von Frankreich unterstützten malischen Truppen einige von den Islamisten kontrollierte Gebiete zurückerobert hatten, konnte man im Fernsehen verfolgen, wie das Lachen wieder zurückkehrte, die alte Fröhlichkeit sich erneut ausbreitete und die Menschen im Schatten an einem wackligen Tisch bei einem Bierchen Karten spielten.
28. Januar 2013
"Religionen wandeln sich zuweilen in tödliche Ideologien"
Aurel Schmidt hat Recht. Religionen wandeln sich zuweilen in tödliche Ideologien, die Menschen handfest und "nachhaltig" schädigen. Auch das Christentum wurde zuweilen zur zerstörenden Ideologie. Die Kreuzzüge gehören dazu, die Vertreibung der Muslime im spanischen Reich, die Verbrennung von Hexen, Ketzerinnen und Ketzern.
Diese ideologischen Zugriffe sind heute auch noch möglich. Ich denke an den Besuch des Papstes beim ehemaligen Diktator Augusto Pinochet. Deshalb ist es nötig, dass der Glaube immer auch von seiner Zwillingsschwester begleitet sein muss. Eine Kirche in der Sakristei missachtet den Zweifel. Sie muss sich den Fragen und Erfahrungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stellen.
So hat es eindrücklich das zweite Vatikanische Konzil formuliert: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden."
Xaver Pfister, Basel
"Grosse Freude"
Grosse Freude, etwas von diesem Selbstdenker aus glücklicheren BAZ-Zeiten zu lesen.
Willi Schneider, Riehen