Die Moralpolizei und mein Zeitplan
Im Quartier, in dem ich wohne, haben wir eine Moralpolizei. Die verteilt keine Bussenzettel, sondern böse Blicke, und sagt ganz, ganz laut zu ihren Kindern, dass das, was die Frau da macht, nicht geht. Die Frau da bin ich. Die Konflikte halten sich in Grenzen, weil die Moralpolizei und ich nicht den gleichen Zeitplan haben. Die schlafen noch, wenn ich aufstehe, und ich komme erst heim, wenn die schon drinnen sind und Traumfänger basteln.
Ausser am Samstag. Da wippen fröhliche Väter mit gestrickten Kappen durch die Gegend, ihre Kinder rasen auf Velos ohne Pedale in horrendem Tempo auf dem Trottoir umher, und die Mütter kochen Biokonfitüre, die sind an den Samstagen eher unsichtbar.
An so einem Samstag wollte ich kürzlich einkaufen gehen und wagte mich zögerlich aufs Trottoir, könnte ja ein Skateboard geflogen kommen, und was sehe ich, mein Auto. Was für eine angenehme Überraschung, da hatte offenbar jemand vergessen, es in die Garage zu stellen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ich.
Das Auto also, es zog mich magisch da rein, und ich fuhr zum Grossverteiler. Das wäre eines der Dinge, die die Eltern hier in Lautstärke 48 ihren Kindern als No Go der Frau da anprangern würden, wüssten sie denn, dass ich bloss drei Vierecke weiter zum Konsum fahre.
"Mit Fleisch füttern ist da dann okay,
und impfen auch."
Wer über zwölf und unter 70 Jahre alt ist, fährt Velo. Die über 70-Jährigen fahren Rollator, die unter 12-Jährigen Velo ohne Pedale oder Kickboard, Auto geht jedenfalls nie. Das Konfliktpotential zwischen U12 und Ü70 ist beträchtlich.
Ich also dennoch im Auto, geschützt vor Kickboards und rasenden Knirpsen. Beim Grossverteiler entschied ich mich spontan, mal wieder einen Sonntagsbraten zu machen, und ging zur Metzgertheke. Kein Anstehen, nichts, wunderbar, isst ja alles veganes Bio hier, und so verlangte ich nach einem schönen Kalbsbraten. Einem, der nicht gleich eingeht wie Wolle in der Kochwäsche.
Die Metzgerin war grossartig, wir diskutierten über Schultern hier und Lenden da, ein paar Knochen dazu wollte ich noch, sie machte schier das Rad, hatte schon ewig keiner mehr verlangt. Und so gingen wir glücklich auseinander, ich mit etwa doppelt so viel Braten wie nötig, und sie froh, dass mal wieder eine kam, die nicht bloss ein eingeschweisstes Stück Tofu aus der Kühltruhe zog.
Zuhause lud ich das Auto in Ruhe auf der Strasse aus, hechtete mit der Ware unfallfrei übers Trottoir zur Haustüre, und stellte das Auto in die Garage. Zum Schutz vor fliegenden veganen Fussbällen und Kindervelos aus einheimischem Tropenholz.
Die Moralpolizei will keine Pferde an der Fasnacht, kein Ozeanium, die armen Tiere. Dabei geht es dem Getier nirgendwo besser. Viel besser als den Katzen, die die Moralpolizei für ihre Kinder als Anschauungsmaterial anschafft, Junge kriegen lässt. Gratis abzugeben härziges Tigerli geimpft und entwurmt hängt dann an der Pinwand im Coop.
Mit Fleisch füttern ist da dann okay, und impfen auch. Anders als bei den Kindern, die werden höchstens entwurmt, bei all den Bioäpfeln. Dafür monatlich zum Arzt geschleppt zwecks Bestimmung des Vitamin B und so weiter, essen ja kein Fleisch, und haben keine Franchisen-Probleme.
Die veganen Kinder ziehen die Katze am Schwanz. Stecken sie in Puppenkleider und in den Rucksack. Und binden ihr eine Glocke um den Hals, die dauernd bimmelt, wegen den armen Vögelein, Katze mit Tinnitus. Und Rennmäuse verhungern in Glaskäfigen, Hamster verirren sich in Zwischenwänden oder werden draussen von Füchsen gefressen, irgendwann findet sich irgendwo ein Skelett. Bio vegan, gegen Tierversuche.
Anders als die Frau da. Ich glaube, ich kaufe mir doch einen Hund.
25. März 2019
"Fast schon sektiererische Weltanschauung"
Sehr treffend wie Frau Andrea Strahm die Doppelmoral dieser ach so weisen Menschen entlarvt. Persönlich stören mich diese veganen, selbstverliebten Weisheitsapostel schon lange. Hauptsache, sie können ihre fast schon sektiererische Weltanschauung unter die Menschen bringen.
Leben und leben lassen bis anhin. Ein wenig zuhören und voneinander lernen wäre doch eine echte Herausforderung. Hoffentlich bleibt uns die spitze Feder von Frau Strahm noch lange erhalten. Vielen Dank.
Peter Kuhni, Muttenz
"Grosser Brocken in den falschen Hals"
Da hat die liebe Andrea Strahm (deren Kolumnen ich sonst immer sehr schätze!) aber einen ganz grossen Brocken in den falschen Hals gekriegt und ganz scharf zurückgeschossen. Als (noch) Fleischesser halte ich mich da doch lieber an ihre Parteikollegin Judith Stamm!
Fredy Moosmann, Tecknau
"Achtung: Humor"
Vielleicht sollt man Leuten, die nicht aus Basel sind, sagen, dass Andrea Strahm Satiren schreibt. Also Achtung: Humor. Sie meint doch (scharf beschrieben) genau das, was die Bibel so ausdrückt: Den Splitter im fremden Auge sieht man, nicht aber den Balken im eigenen Auge ...
Liselotte Reber, Basel
"Leben und leben lassen"
Danke, Frau Judith Stamm, mir gingen beim Lesen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Manchmal würden ein Lächeln oder ein, zwei Worte reichen und das "strafende Gucken" wird gegenseitig weniger heftig empfunden. Man muss sich nicht mögen und gerade in der Stadt ist mir der Abstand zu meinen Nachbarn wichtig. Aber "leben und leben lassen" und die nötige Prise Toleranz.
Erwin Schönholzer, Basel
"Total verstanden!"
Liebe Frau Strahm, ich fühle mich total verstanden! Danke!
Terry Meier, Basel
"Moralpolizei ist allgegenwärtig"
Ja, liebe Frau Strahm, die Moralpolizei ist heute in allen Bereichen unserer Gesellschaft tätig: Es gibt eine Art Religionspolizei, die überall darauf achtet, dass man nichts sagt, was einen dünnhäutigen Gläubigen verletzt, eine Political Correctness-Polizei, die darauf achtet, dass Wahrheiten nicht gesagt werden, damit sich niemand diskriminiert fühlt, eine Rassismuspartei, die sogar krampfhaft in alten Kinderbüchern Bilder oder Textpassagen sucht, die heute ein No Go sein könnten, Leute die Abfallkübel von Unternehmen durchwühlen, um aufschreien zu können, jene würden den Datenschutz nicht ernst nehmen, und noch viele andere Varianten.
Es ist schlicht Zeitgeist, und vielleicht auch ein Zeichen der Zeit. Denn die wirklichen Probleme – das geb ich zu – lassen sich in dieser globalisierten Welt nur schwer angehen. So ist es hilfreich, auf andere mit Fingern zeigen zu können, es lässt sich dann besser einschlafen, wenn man selber so viel besser ist.
Lucas Gerig, Bürgerrat GLP, Basel
"Nagel auf den Kopf getroffen"
Einfach herrlich, die Aussagen von Andrea Strahm. Sie trifft einmal mehr den Nagel auf den Kopf und steht mit beiden Füssen auf dem Boden. Danke Andrea Strahm!
Esther Hug, Aesch
"Dankeschön für diese Worte"
Wie treffend und gut beschrieben. Ein grosses Dankeschön für diese Worte. Irgendwie leben wir in einer Gesellschaft, bei der es wichtiger ist, das gesunde Essen und das Miteinander, natürlich nur auf Diktat des anderen, in den Vordergrund zu stellen, als die wirklichen Probleme. Diese scheinen aber in unserer Mitte zur Zeit nicht zu existieren. Gespannt lese ich Ihren nächsten Kommentar, liebe Frau Strahm.
Lukas Schaub, Birsfelden
"Man auch alles 'kaputt' schreiben"
Ja, ich zweifle nicht daran, dass Andrea Strahm alles so erlebt, wie sie es beschreibt. Mit spritzigem Intellekt und spitzer Feder kann man auch alles "kaputt" schreiben. Habe in meiner Umgebung Veganer. Das sind interessante, aufgestellte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Habe von ihnen viel gelernt über die industrielle Fleischproduktion und deren weltweite Auswirkungen.
Als Kind bin ich als Katholikin in der Diaspora aufgewachsen. Da schauten die Reformierten an Fronleichnam aus dem Fenster, um zu sehen, was wir für einen merkwürdigen Umzug wir veranstalteten. Sie betrachteten uns als sehr merkwürdige Mitmenschen und unsere Rituale als sozusagen unverständlich!
Heute leben wir in gegenseitigem Respekt zusammen.
Könnten wir auch den Veganerinnen und Veganern gegenüber einfach mal mit Respekt über eine andere Ernährungshaltung anfangen, statt sie an allfälligen Widersprüchen aufzuhängen?
Ich glaube nämlich, dass in der heutigen komplizierten Welt fast niemand ohne Widersprüche über die Runden kommt, mit oder ohne Fleischkonsum!
Judith Stamm, Luzern
"Lassen Sie sich nicht unterkriegen"
Ja, so ist das neuerdings in unserer Gesellschaft. Würde mein Vater noch leben, hiess genau gleich wie ich, dann hätte eine solche Art und Weise Ihrer Nachbarn ebenfalls Eingang in einen Leserbrief gefunden. Dieser wäre dann jedoch in der "Basler Zeitung" erschienen, denn dort hatte er als freier Journalist über "Sport", "Musik", Anderes und eben auch, über solche Begebenheiten, geschrieben und wie genüsslich. Ja ich glaube sagen zu können, dass dies sich im Neubad-Quartier ereignet haben könnte. Bin dort aufgewachsen und auch einige Zeit zur Schule gegangen.
Liebe Frau Strahm, lassen Sie sich nicht unterkriegen, ich lese Ihre Kolumnen immer sehr gerne.
Guido Riva, Fiesch VS