Neugier ist eine existenzielle Energie
Die Welt, die ich sehen und anfassen kann, übersteigt noch lange nicht mein Visibilitäts- und Fassungsvermögen. Fast alles macht mir klar, dass es neben der materiellen, realen, handgreiflichen Welt noch eine andere, geistige, intellektuelle, begriffliche gibt, die in der ersten enthalten ist, sie aber zugleich übersteigt.
Für einmal lasse ich die Banalitäten und schäbigen Winkelzüge der Politik und des gewöhnlichen Alltagslebens beiseite. Heute soll Fest- und Feiertag sein.
Was mich beschäftigt, ist die Frage, was ich weiss oder wissen kann. Neugier ist eine existenzielle Energie. Das akkumulierte individuelle Wissen befriedigt diese Neugier, aber nie restlos. Es wird nie genug sein.
Die "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" von Friedrich Schiller sind eines der gewaltigsten Werke der deutschen Sprache. Ich lese immer wieder darin und bin sprachlos, das heisst voller Bewunderung. Es ist ein Genuss damit verbunden, der zum Preis der Buchausgabe zu haben ist.
Ich denke an die Transzendentalisten in den Vereinigten Staaten, die um 1830 in Concord, Massachusetts, eine hochgestimmte Lebensphilosophie entwickelten.
Zu den faszinierendsten Expeditionsreisen gehört für mich diejenige von Ernest Shackleton 1914-17 in die Antarktis, während der die Teilnehmer jahrelang im Eis festsassen und die fürchterlichsten Strapazen aushalten mussten.
Warum ich das schreibe? Weil es mir einfällt, und weil ich versuche, mir die Welt in so vielen Facetten wie möglich vorzustellen.
Auf einer Reise in die Gelben Berge (Huang Shan) in China habe ich versucht, die bizarren Berg- und Felsenformationen mit der chinesischen Landschaftsmalerei zu vergleichen und in Verbindung zu bringen.
Die freie Zeit verbringe ich damit, die grossen Romane von Honoré de Balzac zu lesen, weil ich aus ihnen eine anschauliche Vorstellung des Lebens in Frankreich des 19. Jahrhunderts gewinnen kann.
Jeden Tag muss ich in den Nachschlagewerken drei, vier Wörter nachsehen und ihre Herkunft und Bedeutung eruieren. Die Sprache ist ein Playground, ein Laboratorium, ein Archiv, ein erstaunliches Universum.
Zuletzt kommt es darauf an, das Wissen zu einem Tableau zu arrangieren und es zu benützen, um besser zu verstehen, wie die Verhältnisse sich historisch entwickelt und die Wissensbereiche, zum Beispiel in der Evolution oder Physik, formiert haben und sich ihre Dichte und Totalität herausgebildet hat.
Wissen ist Navigieren, ein kombinatorisches, kreatives Spiel. Was und wieviel hat das Eine mit dem Anderen zu tun und was bedeutet das Ganze?
Wissen ist umweltfreundlich, es vergrössert den ökologischen Fussabdruck nicht, ausserdem lässt es sich leicht und beliebig vermehren. Es ist ein humanes Kapital.
Man kann auch anders leben und anderen Interessen nachgehen. Alles läuft darauf hinaus, was ich mit meiner Zeit, also meiner Lebenszeit, anstelle, ob ich sie sinnlos verschwende oder nicht und ob ich mir am Ende sagen kann, dass nicht alles umsonst war.
5. Februar 2007