Über solche und andere Schmarotzer
Um acht Uhr abends schob die Frau in einem finsteren Aussenquartier den Kinderwagen in den Bus.
Ich stelle mir das Leben dieser Frau vor: Die Tagesarbeit war abgeschlossen, sie hatte das Kind aus der Krippe geholt und war auf dem Nachhauseweg. Sie würde das Nachtessen zubereiten, sich um das Kind kümmern, den Haushalt besorgen und bald müde zu Bett gehen.
Es gibt viele Menschen, die auf viele Annehmlichkeiten im Leben verzichten müssen.
Vielleicht arbeitet die Frau zu einem Lohn, der nirgends hinreicht (so sah sie aus), und vielleicht ist sie auf Sozialhilfe angewiesen. Man weiss ja, dass das vorkommt.
Oft wird mit der Sozialhilfe Missbrauch getrieben. Auch das kommt vor. Aber genauso oft ist sie für viele Menschen ("working poor"), die sich den ganzen Tag abrackern müssen, unentbehrlich.
Ich stelle mir ausserdem vor, wie Geschäftsleute, Politiker, institutionelle Interessenvertreter und Angehörige der besser gestellten Klasse, die beim Business-Lunch für 38 Franken ("Salade mêlée, Meerfrüchte-Risotto, Creme brûlée, ohne Getränke") über den viel zu teuren Sozialstaat losziehen und über die Schmarotzer, Faulenzer und Drückeberger schimpfen, und frage mich, wer hier die Schmarotzer sind, die diese Bezeichnung verdienen.
Es gibt Menschen, die längst alles, aber noch lange nicht genug haben, und den anderen den Lyoner aufs Brot (2.80 Franken die "Budget"-Packung) missgönnen.
Es geht ja längst nicht mehr um Sozialhilfe-Empfänger. Auch die Löhne sind zu hoch (natürlich nur in den untersten Einkommensklassen). Die staatliche Verwaltung ist zu teuer. Die Bauern bekommen zuviel. Die Ausgaben für Kultur und Gesundheit sind zu hoch. Auch bei der Bildung. Forschung und Wissenschaft soll gespart werden.
Wenn aber das Thema der sagenhaften Einkommen, Boni, Abfindungen, gerichtsnotorischen Kumpanei der Begünstigungen (wie bei Mannesmann) etc. zur Sprache kommt, ist gleich die Rede von Neid und Missgunst. Der Urner Politiker Franz Steinegger, der sonst meistens treffende Dinge sagt, hat kürzlich im "Blick" erklärt, dass heute in Amerika in einigen Unternehmen die Vorstandschefs 400-mal mehr verdienen als ein durchschnittlicher Angestellter. Nur dort? Nicht nur.
"Wir leben in einer nervösen Welt", kommentierte Steinegger die Lage. "Viele, die oben sind, wollen in dieser Zeit möglichst viel zusammenraffen. Auch sie fürchten, von der Leiter zu fallen."
Das ist eine Erklärung, die ganz bestimmt die neidischen Hilfsarbeiter und Kassiererinnen, die um ihren Job bangen oder ihn verloren haben, günstig beeinflussen wird. Nur von der Leiter gefallen sind sie nie. Dazu haben sie nie Gelegenheit gehabt.
So profitieren die einen von der boomenden Wirtschaft, den steigenden Renditen, der galoppierenden Börsenhausse und wissen nicht, was sie mit ihrem Geld anstellen sollen, ausser es noch weiter zu vermehren beziehungsweise "zusammenzuraffen" (in der Steinegger-Diktion). Die anderen schauen in den Mond (wie der Volksmund sagt).
Die soziale Ungleichheit wird immer grösser. Davon zu sprechen hat nichts mit Neid zu tun. Aber auf die Länge kann es nicht gut gehen.
25. Dezember 2006
"Wir geraten in den ökonomischen Faschismus hinein"
Wir haben den religiösen Faschismus hinter uns. Auch der politische Faschismus wird bekämpft. Wir geraten aber jetzt in den ökonomischen Faschismus hinein. Die meisten PolitikerInnen und JournalistInnen haben immer nur die Gesichter des historischen Faschismus im Kopf. Doch seine "verschlankte" Politik hat eben kein Hitler-Gesicht, dafür ein sich wandelndes und wiederholendes "einfaches" System: Heute darf die soziale Gemeinschaft immer weniger für den ökonomischen "Bodensatz" sorgen – sie soll sparen. Dafür dürfen sich die "Beneideten" mit dem sich wieder entwickelnden Mäzenatentum die letzten Lorbeeren auch noch einheimsen.
Peter Thommen, Buchhändler, Basel
"Abzocker, Profiteure, Seelenverkäufer"
Der Feststellung im letzten Satz zum traurigen Thema ist nichts mehr beizufügen, es ist davon auszugehen, dass alle Betroffenen es so sehen. Die Einen befürchten es, die Enderen finden, es sei an der Zeit. Was mich und mit mir wahrscheinlich viele Normalbürger schon lange brennend interessiert, ist die Frage, wie eigentlich solche Abzocker, Profiteure, Seelenverkäufer oder wie man sie nennen soll, noch ruhig schlafen können. Und wenn jemand von diesem schäbigen Clan dies doch zustande bringt, muss dessen Moral, Ethik und Verantwortungsbewusstsein ganz schön tief im Keller liegen. Neid? Kaum unter diesen Umständen! Eigentlich hilflose Typen, mit der Angst leben zu müssen, einmal Verlierer zu sein. Und nachher zum Gespött der Öffentlichkeit zu werden. Leider werden sie während ihrer Zeit durch ihr Verhalten vielen Bürgern die Existenz rauben. Und das ist der eigentliche Skandal.
Bruno Heuberger, Oberwil