... Shanghai: "Harmonisches Paradies"
Grösser, höher, schneller, besser. Zwei Jahre nach den "besten Olympischen Spielen aller Zeiten" ist nach Peking jetzt Shanghai an der Reihe. Die Shanghaier, stolz auf ihre Weltoffenheit seit über hundert Jahren, wollen es den Pekingern gehörig zeigen. Das ist etwa so, wie wenn es in der Schweiz die Zürcher den Baslern zeigen sollten oder wollten. Oder umgekehrt.
Wie immer, Shanghais Weltausstellung wird – wie Chinas Staats- und Parteichef bei der Eröffnung mit stolz geschwellter Brust, schwarz gefärbten, voluminös geföhnten Haare und feierlicher Stimme verkündete – "grossartig und unvergesslich". Kein Zweifel, Shanghai wird alle Rekorde brechen. Schon mit der Eröffnung liess Shanghai 2010 Peking 2008 weit hinter sich. Das Feuerwerk beidseits des Huangpu-Flusses zum Beispiel war mit über hunderttausend Raketen weit krachender als das olympische Eröffnungsfeuer-Spektakel. Das sind nur Äusserlichkeiten, aber schöne, die zudem via Fernsehen weltweit China buchstäblich im besten Licht erstrahlen liessen.
Substanzieller sind andere Superlative, die über sämtliche Medien den Chinesinnen und Chinesen nahe gebracht werden. Mit 5,3 Quadratkilometern Fläche im Stadtzentrum und weit über zweihundert Ländern, Regionen und Organisationen ist es "die grösste, beste, teuerste World Expo aller Zeiten". Das sechsmonatige Mega-Ereignis wird, so hoffen die Veranstalter, 70 Millionen Besucher, darunter fünf Millionen aus dem Ausland anlocken, also täglich 400'000. Warteschlangen sind garantiert, doch das wird in der Presse nur unter ferner liefen mitgeteilt. Im Kleingedruckten sozusagen. Das gleiche gilt für die exorbitanten Hotelpreise.
Das Riesen-Spektakel läuft unter dem Motto "Eine bessere Stadt – ein besseres Leben". Das ist in einer Zeit, in der die Bevölkerung Chinas aber auch der Welt zunehmend in Städten wohnt, durchaus ein sinnvolles Konzept. Stichworte etwa: Verkehr, Umwelt, Energie, Wohnen, Arbeiten. Die 20-Millionen-Metropolis Shanghai hat bei der Planung und beim Aufbau der World Expo am meisten profitiert. Der öffentliche Verkehr ist mit über 400 Untergrundbahnkilometern stark gefördert, ganze Stadtteile sind erneuert worden. Wolkenkratzer gibt es in der dicht besiedelten Stadt mittlerweile mehr als in Manhattan. Umwelt ist sowohl bei Politikern als auch bei Bürgern zu einem ganz grossen Thema geworden.
Natürlich verlief nicht alles so, wie es sich Planer, Umweltschützer, Denkmalpfleger, Expo-Organisatoren gewünscht hätten. Summa summarum jedoch ist das Resultat positiv, und Schanghai – die "neue Welthauptstadt" – wird den Bürgermeistern von chinesischen, asiatischen, afrikanischen, südamerikanischen Millionenstädten und vielleicht auch Nordamerika und Europa Anregungen, Konzepte, Ideen vermitteln.
Unter all den Grossen ist auch die Schweiz mit einem eindrucksvollen, 24 Millionen Franken teuren Pavillon (Architekten: Buchner Bründler, Basel) vertreten. Ein Sesseli-Lift wird wohl im Mittelpunkt des Besucher-Interesses stehen. Das Thema "Interaktion von Stadt und Land" fügt sich nahtlos ins übergreifene Expo-Motto ein, genauso wie der Beitrag der Städte Basel, Genf und Zürich ("Better water, best urban life").
Mein Geheimtipp allerdings ist der nordkoreanische Pavillion. Er liegt vom südkoreanischen Pavillion nur vom Beitrag eines anderen Landes getrennt, als Puffer sozusagen. Und der ist – ausgerechnet – Japan. Das nordkoreanische Motto weist, wie alles, was aus dem von der Aussenwelt hermetisch abgeschotteten Staat kommt, visionär in die Zukunft: "Paradies des Volkes". Nach Pjöngjangs Auffassung allerdings ist das Zukunftskonzept in Nordkorea bereits Wirklichkeit. Ein Paradies eben. Trotz Hunger, dafür aber Atombomben.
Kurz und gut, die Stadt der Gegenwart und Zukunft soll nach der chinesischen Idee "harmonisch, friedlich, umweltschonend, nachhaltig und zivilisiert" sein. Ein "Projekt zur Wahrung des Gesichts" hat im Vorfeld der Weltausstellung gezeigt, was unter anderem unter "zivilisiert" zu verstehen ist. Bettler, Kleinkriminelle, Bittsteller und "Gesindel" wurden aus der Stadt entfernt, eine Praxis, die in Peking jeweils vor dem Nationalfeiertag praktiziert und vor den Olympischen Spielen 2008 verfeinert wurde. Auch das Pyjamatragen am hellichten Tag in aller Öffentlichkeit oder das Hochrollen von T-Shirts über die wohlgenährten Männerbäuche im Sommer wollten die Behörden dem Laobaixing (Durchschnittsbewohner) austreiben, weil "unzivilsiert".
Shanghai kann bei all dem gewiss von Peking lernen. Von den Hauptstadt-Erfahrungen kann Shanghai auch profitieren in Sachen Spucken, Drängeln, Fluchen. Die wichtigste Lektion: Nach dem Ereignis nimmt alles seinen alten, gewohnten Lauf. In Peking wird wieder gespuckt, geflucht, gedrängelt, dass es seine Art hat. In der Finanz- und Wirtschaftsmetropole Shanghai wird das kaum anders sein. Nadelstreifen-Anzug der smarten Bankers hin, Pyjama der Laobaixings her.
Natürlich hat die Weltausstellung auch übergeordnete Ziele. Die Schau soll als Meilenstein von Chinas wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in die Geschichte eingehen. Auch nationaler Stolz spielt mit. Nach dem Opiumkrieg 1842 wurden China und Shanghai durch das aufstrebende England gewaltsam geöffnet. Heute hat China und Shanghai nach chinesischem Verständnis wieder jene Bedeutung erlangt, die das Reich der Mitte vor dem "Jahrhundert der Schande und Erniedrigung" durch westliche und japanische Kolonialisten einnahm. Wie schon die Olympischen Spiele in Peking 2008 soll auch die Shanghaier Weltausstellung zeigen, dass, wenn nicht das chinesische, so doch das asiatische Jahrhundert angebrochen ist.
Weltaustellungen hatten, ob deklariert oder nicht, meist eine ähnliche Funktion. Angefangen bei der allerersten Expo 1851 in England, die das Mutterland der Industriellen Revolution ins rechte Licht stellen sollte und die Weltmachtstellung des Vereinigten Königreiches zementierte. Das wiedererstarkte Japan hatte mit den Olympischen Spielen in Tokio 1964 und der Weltausstellung in Osaka 1970 eine ähnliche historische Gelegenheit wie China jetzt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit "Peking" und "Shanghai".
Dass allerdings Shanghai die erste Weltausstellung in einem Entwicklungsland ist, wie offizielle moniert wird, ist nicht ganz korrekt. Bereits vor hundert Jahren richtete China 1910, ein Jahr vor dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, eine Ausstellung in Nanjing aus, die füglich als Weltausstellung apostrophiert werden könnte. Handkerum: Vor 1928, dem Gründungsjahr des Bureau International des Expositions (BIE) in Paris, gab es keine verbindlichen Definitionen und Regeln, was denn eine Weltausstellung sei. Wie auch immer, für Premierminister Wen Jiabao ist mit der Weltausstellung in Shanghai "ein 100 Jahre alter Traum in Erfüllung gegangen". Nicht Peking sondern Shanghai ist jetzt, glaubt man den chinesischen Medien, für ein halbes Jahr der Nabel der Welt.
Ob im digital vernetzten Weltdorf des 21. Jahrhunderts die Expo-Idee aus dem 19. Jahrhundert nicht doch ein wenig antiquiert ist, wird sich spätestens am 31. Oktober, dem Schlusstag der Shanghai World Expo zeigen. Mein Rat: Mit eigenen Augen sehen, so ein chinesisches Sprichwort, ist besser als tausend Bücher oder in diesem Falle den "Brief aus Shanghai" lesen.
3. Mai 2010