... Peking: Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
Velofahren in Chinas Grossstädten ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Kurz, es ist fast kein Vergnügen mehr. Die bis vor wenigen Jahren schön breiten Fahrradwege sind neuerdings hälftig für Autos befahrbar, und kürzlich hat ein hoher Verkehrspolizist der chinesischen Hauptstadt allen Ernstes behauptet, Velos seien eines der grössten Hindernisse für den Verkehr.
Der Verkehrs-Polizeioffizier ist wohl ideologisch schlecht erzogen, sonst hätte er sich gewiss an das Wort des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping erinnert: "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen." Und Tatsache ist, dass jeden Tag Tausende von neuen Autos die Strassen verstopfen und bald fünf Millionen Luftverschmutzer Pekings Strassen unsicher machen. Tatsache ist auch, dass ich im Zentrum Pekings die acht Kilometer von meiner Wohnung ins Büro per Velo weit schneller zurücklege als im Taxi. So sind die Verkehrsverhältnisse in allen chinesischen Grossstädten.
Dennoch, aus der Froschperspektive eines Velofahrers ist das Auto bei weitem nicht das grösste oder gefährlichste Verkehrsmittel. Weit gefehlt, denn im Stau stehende Maseratis, Ferraris, Hummers oder Porsches können weder Pedaleur noch Pedaleurin erschrecken, allenfalls entzücken. Nein, die drohende Gefahr sind jene Fahrzeuge, die von Birkenstock-Beschuhten bereits fälschlicherweise als das umweltfreundliche Allheilmittel über den grünen Klee gelobt werden.
Wer die "Wahreit in den Tatsachen sucht", wird bald feststellen, dass es nichts Gefährlicheres gibt als ein E-Bike. Lautlos und in einem Affenzahn blochen sie über den Asphalt. Auf meiner "Fliegenden Taube" bin ich schon oft vom durchdringenden, im letzten Moment applizierten elektronischen Gehupe erschreckt worden. Nur knapp, die Balance verlierend, habe ich bisher einen Sturz vermeiden können.
Umweltfreundlich sind die elektronischen Fahrräder auch nicht, zumal in China, wo Blei-Batterien verwendet werden. Ein chinesischer Umwelt-Journalist hat neulich vorgerechnet, dass ein E-Bike während seines Lebenszyklus' fünf Batterien verbraucht. Deren Entsorgung lässt die Ökobilanz ganz schlecht aussehen. Kommt dazu, dass die Elektrizität in China zu siebzig Prozent aus Kohlekraftwerken stammt, was die Ökobilanz nochmals verschlechtert.
Aber E-Velos sind der absolute Renner in China. In Peking allein machen bereits fast eine Million die Strassen unsicher. Letztes Jahr wurden in ganz China 24 Millionen Stück produziert zum Preis von umgerechnet 250 bis 450 Franken. Immerhin, in China werden noch immer drei Mal mehr ganz gewöhnliche Tret-Velos hergestellt als E-Bikes. In Peking steht das Verhältnis Velos zu E-Bikes fünf zu eins. Und noch immer sind die über fünf Millionen Radfahrer gegenüber den Autolenkern wenigstens numerisch leicht im Vorteil.
Nach neusten Berechnungen hat die Zahl der Autos, die sich auf Pekings Strassen im Stau quält, im vergangenen Monat 4,85 Millionen erreicht. Das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Die "Fliegende Taube" mit Stängeli-Bremsen lässt sich davon nicht beeindrucken, flattert weiter und wartet angesichts der vielen Autos und E-Bikes auf das längst fällige Helm-Obligatorium.
26. September 2010