Der besondere Geschmack
Drei meiner Onkel leben in der Nordwestschweiz. Sie waren Konditoren und Bäckermeister. So sei mir ein Ausflug in die Welt der Naschwaren erlaubt.
Das Leckerli, gut Baseldytsch: Läggerli. Man nehme viel Honig, viel Zucker und mische das klebrige Zeug mit Mehl, Mandeln, Nüssen und allem, was den besonderen Geschmack ausmacht: Zitronen, Orangen, Zimt, Nelken, Muskat und Kirsch. Das Kneten soll anstrengend sein.
Ein feines Gebäck. Nur weiss man beim Leckerli nie so recht, was einen beim Zubeissen erwartet. Mal ist es weich, mal hart, mal beides ein bisschen. Lässt man es zu lange stehen, wird es wie versteinert. Dann kann man sich die Zähne ruinieren.
Also: Willkommen, liebe Gäste, in der Host City Basel. Ein Hinweis aufs Leckerli gehört zum Reiseprogramm. Denn besser kann man an der Basler Eigenart nicht kosten. Diese Stadt ist vieles, nur eines nicht: langweilig konsistent. Das macht eine Annäherung so spannend. Oft verbirgt sich das Wesentliche hinter einer schön bemalten Larve.
Was denn ist Basel? Als Gast dürfen Sie fragen. Man wird Sie höflich distinguiert auf Allgemeinplätze verweisen. Je nach dem, wo oder wen Sie fragen, heisst es dann vielleicht: Die Grenzstadt! Die Humanistenstadt! Die Kulturstadt! Die Chemiestadt! Die Fussballstadt! Die Fasnachtsstadt! Die Messestadt! Und so fort.
Alles stimmt. Und doch ist es falsch – zumindest so absolut formuliert. Denn das Faszinierende dieser Stadt liegt gerade darin, dass sie nicht nur viel von etwas, sondern stets auch etwas von vielem ist. Eine Grenzhumanistenkulturchemiefussballfasnachtsmessestadt. Und so fort.
Natürlich pflegt die Stadt ihre Traditionen und Bräuche und Liebschaften. Der FC Basel könnte gegen den Abstieg in die Challenge-League kämpfen, das Stadion wäre trotzdem rammelvoll. Oder besuchen Sie mal das Drummeli, dieses stundenlange Pfeifer- und Tambouren-Konzert des Fasnachts-Comités: Als Auswärtiger werden Sie staunen, wie viele Menschen an so einem Abend ob so einer Sache so begeistert sind. Oder gehen Sie an den intellektuell kostümierten Dies Academicus: Sie wären nicht überrascht, würde hier sogleich Erasmus von Rotterdam zum Ehrenprofessor der Universitas Basiliensis ernannt.
Das sind wichtige gesellschaftliche Ereignisse. Doch es gibt Leute, welche die Basler Eigenart kategorisch aus solchen und ähnlichen Teilen des Stadtlebens reklamieren. Bei derartigen Verallgemeinerungen sollten Sie vorsichtig sein. Vieles ist Mythos, manches ist Cliché, einiges auch einfach nur ein alter Zopf. Hier wäre zu antworten: Basel tickt tatsächlich anders. Nämlich normaler. Vielfältiger. Überraschender. Man muss es nur entdecken. Denn selbst auf einheimische Ratgeber ist nicht immer Verlass.
Ich erinnere mich zum Beispiel an ein nettes Gespräch mit einer vermögenden älteren Dame aus gutem altem Haus. Irgendwie kam die Rede auf den niederen Teil von Basel. Die Dame offenbarte, dass sie seit Jahren keinen Fuss mehr ins Kleinbasel setze – aus Angst, in diesem multikulturellen Räuberquartier überfallen, ausgeraubt oder gar entführt zu werden. "Schrecklich", stöhnte sie noch, "schrecklich, dass so etwas ein Teil von Basel ist!"
Die Frau hat mein Mitleid. Sie lebt in einem goldenen Käfig an Clichés. Wäre sie Confiseuse, sie nähme vermutlich nur Honig, Zucker und Mehl ins Leckerli-Rezept. Bloss fehlt dann der besondere Geschmack.
7. Januar 2008
"Sehr origineller Vergleich"
Sehr geehrter Herr Bachmann, Gratulation zu den interessanten Überlegungen. Der Vergleich mit dem Basler Läggerli und dem dazu passenden Rezept das ist sehr originell. Sie beschreiben auch die Eigenheiten der Stadt Basel sehr treffend. Man sieht, dass Sie in ihrer aktiven Zeit in Basel sehr gut aufgepasst haben. Ihre Meinung zur Aussage der älteren Dame kann ich so nicht teilen. Denn ein schöner Gewürzgarten muss immer auch vom Unkraut sauber gehalten werden. Es darf immer nur so viel Unkraut wuchern, dass die Gewürzpflanze nicht erstickt. So schmeckt auch das Basler "Läggerli" trotz Unkraut immer noch zuckersüss.
Werner F. Voegelin, Basel