Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Die Möve"
Autor: Anton Tschechow
Regie und Bühne: Viktor Bodó
Kostüme: Fruzsina Nagy
Musik: Klaus von Heydenaber
Dramaturgie: Anna Veress, Bettina Ehrlich
Mit Ariane Andereggen, Gabor Biedermann, Inga Eickemeier, Frederik Göke, Julien Hackenberg, Vincent Leittersdorf, Joanna Kapsch, Christian Heller, Claudia Jahn, Florian Müller-Morungen
Violine: Nitzan Bartana, Klavier: Klaus von Heydenaber
Selbstmord im Schattenriss
Nehmen wir das Theaterprogramm zur Hand, und lesen den ersten Text (von Schriftsteller Peter Urban). Beginnt so: "Die grossen Dramen der Gegenwart, sagt Tschechow, finden im Kleinen statt, in aller Stille ...". Blättern wir weiter, zu Konstantin Stanislawski, der nach der durchgefallenen Premiere (1896) "Die Möwe" 1898 mit "orkanhaftem Erfolg" (Hensels Schauspielführer) inszeniert hatte: Der Reiz der Aufführung lasse sich nicht mit Worten wiedergeben; "er liegt zwischen den Zeilen verborgen, in den Pausen, oder in den Ansichten der Schauspieler, in der Ausstrahlung ihres inneren Gefühls". Soviel zum Hintergrund.
Blicken wir nun auf die Bühne des Schauspielhauses, suchen also nach der Ausstrahlung dieses inneren Gefühls und werden verlegen: Putzmunteres Schauspielertheater, getragen davon, dass Tschechows alte Sätze auch in heutiger Schnellsprechmanier, mit heutiger Schnelldenkermentalität ganz wunderbar Effekt machen; die Pointen nämlich blitzend Schlaglichter auf Schwächen und Abgründe der angekränkelten Helden werfen.
Klappt ja so gut, dass selbst die längeren Dialogszenen voller Erklärungen und Beschreibungen hier ohne Striche vorgeführt werden, ja die vier Akte, bis zum Selbstmord des jungen Schriftstellers Kostja, in zwei Stunden und 45 Minuten im Nu vorbeiziehen. Bloss dem Text gefolgt, so scheint es, spielt sich das glänzend gebaute Stück fast von selbst, kippen die einzelnen Dramen wie von Tschechow gewünscht zur Komödie. Selbst wenn alle scheitern, an der Kunst, in der Liebe, am Leben, die sich auf dem Landgut von Staatsrat Sorin treffen.
Kostja scheitert nicht nur an der Ambition, ein neues Theater zu erfinden, sondern auch an seiner Liebe zur Jungschauspielerin Nina. Wie er einsieht, dass sie den erfolgreichen Schriftsteller Trigorin will, schiesst er eine Möwe. Hier wirft er Nina das tote Tier im Plastiksack vor die Füsse. Trigorin aber ist liiert mit seiner Mutter Irina, einer Schauspielerin, deren Mitgefühl vor allem den eigenen Erfolgen gilt. Dennoch geht Trigorin eine Affäre mit Nina ein. Nach der Geburt eines Kindes verlässt er sie und kehrt zu Irina zurück und setzt seine sinnentleerte Existenz fort. Nina landet auf drittklassigen Landbühnen. Nachdem sie Kostja, der sich mittlerweile als Autor etabliert hat, im Zustand völliger Verwirrung besucht hat, erschiesst er sich.
Gescheitert ist aber auch Staatsrat Sorin, der immer in der Stadt leben wollte. Frauenschwarm Doktor Dorn hat als Junggeselle resigniert. Und Mascha, deren Liebe zu Kostja unerwidert blieb, und die sich regelmässig besäuft, wirft sich mit dem verhärmten Lehrer Medwedenko in eine unglückliche Ehe.
Dass Transparenz entgegen einer gutbürgerlichen Stubengemütlichkeit, aber auch eine Vergröberung entgegen einer feinziselierten oder gar elegischen Dramenausbreitung die volle Absicht des preisgekrönten Budapester Regisseurs Viktor Bodó (erste Inszenierung in Basel) war, zeigt er auch an mit dem Bühnenbild, das er erstellen liess: Das rostig rote Stangenbaugerüst auf kahler Bühne dient zu Beginn als Theatertribüne für Kostjas missglückte Aufführung, später als Hauswände, am Ende formt es die Enge des Salons, den Kostja zu seinem Arbeitszimmer umfunktioniert hat. Als Referenz zu Stanislawskis realistischen Regiestil, den Tschechow giftig kommentiert hatte, ruft Viktor Bodó anfangs das Landleben akustisch auf den Plan: Die Hühner gackern, die Hunde bellen, die Kühe muhen. Das ist im Zitatzusammenhang witzig.
Aber so durchsichtig das Gerüst, so klar die Struktur des Stückes, so griffig die Inszenierung, so wenig wird uns – siehe Anfang - der Reiz verborgen zwischen den Zeilen, jene Stille, in der die Dramen stattfinden, gegönnt. Die Personen scheinen dem Regisseur wenig mehr als jene Figuren im Schattenriss zu sein, wie er sie jeweils bei den Aktwechseln mit Hilfe von Scheinwerfern, die sich hinter einer Plane am Bühnenrand bewegen, projiziert hinwirft: Umrisse, Schatten, die vorübereilen, fleischlos, nur auf Zeit im Licht.
Die psychologische Plausibilität ist bei fast allen Figuren kaum nach Anlage durchgeführt. Die Hauptfiguren wirken alle so stabil, dass ihnen ihr Drama nicht glaubhaft zugeschrieben werden kann – dies besonders schmerzhaft in der hochdramatischen Schlussszene von Joanna Kapsch als Nina. Statt einer vom Leben Runtergegeisselten begegnen wir einer sonderbaren Mischung aus Gretchen und einer stämmigen Dorfverrückten. Einzig Julian Mackenberg als Kostja oder Inga Eickemeier als Mascha machen wunde Stellen mitfühlbar, aber selbst sie wirken beide letztlich intellektuell als zu stark, zu selbständig.
Um Steigerungen zu ermöglichen, nimmt die Ensembleführung Ausflucht in Persiflagen, in kaltes Schreien oder zu entblössten Frauenbrüsten. Oder Leittersdorf als Sorin in sein bekanntes ironisches Spassmachertum.
Wenn wirken sollte, was zwischen den Zeilen liegt, müssten die Wörter, wenn sie gesprochen werden, von einer Geschichte, die wir hören können, belastet sein. Dann könnten uns Bruchstellen nicht bloss als pointiert-pikante Textstelle auffallen, über die man lächelt, sondern auch unangenehm als Gehalt einfahren. Dann bestimmte die Ambivalenz das Gefühl über die gesamte Spieldauer – und so auch darüber hinaus. Wäre so der Spiegel, wie ihn Tschechow, dem Publikum vorhalten wollte, nicht wirkungsvoller? Der Applaus war kräftig.
21. September 2013