Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"Tod eines Handlungsreisenden"
Autor: Arthur Miller
Regie: Barbara-David Brüesch
Bühne: Damian Hitz
Musik: Gaudenz Badrutt & Christian Müller
Kostüme: Heidi Walter
Dramaturgie: Bettina Ehrlich
Mit Manuel Bürgin, Dirk Glodde, Joanna Kapsch, Chantal Le Moign, Florian Müller-Morungen, Lorenz Nufer, Heiko Pinkowski, Silvester von Hösslin
Willy Loman steht im Regen
Eine lange halbe Minute lang prasseln ihm die Tropfen auf Käppi und Mantel. Seine Augen wandern von links nach rechts als suchte Loman (Dirk Glodde) einen Ausweg. Gleich wird er seiner Frau Linda (Chantal Le Moign) sagen müssen, dass er heute nicht mal seine Tour geschafft habe, mit hundert Sachen träumend von der Fahrbahn abgekommen sei, sich nur mehr im Schritttempo zurückgewagt habe. Die nächsten 120 Minuten verdichten seine letzten Tage bis zum Selbstmord, der vorgetäuschte Unfalltod soll seiner Familie wenigstens 20'000 Dollar Versicherungsgelder besorgen. Ich bin todmüde, sagt er Linda, lässt in der Silbe "tod" so anklingen, dass er das Lebensende meint.
Seine Firma, für die er als Vertreter 34 Jahre lang tausende Meilen mit seinen Musterkoffern abfuhr, hat ihm den Grundlohn entzogen, ihn auf Provisionsbasis gesetzt. Bald wird sie den 60-Jährigen ganz ausmustern. Denn Loman bringt nichts mehr an den Mann. Das Haus ist noch nicht abbezahlt. Um durchzukommen, muss er den Nachbarn, den er beneidet, anpumpen. Seine Söhne, beide anfangs Dreissig, liegen ihm auf der Tasche. Der Ältere und Ehrliche, Biff (Manuel Bürgin), verlor seine Aushilfsjobs, weil er stahl. Der Jüngere und Verlogene, Happy (Lorenz Nufer), bumst die Bräute seiner Bosse. Und dann auch noch jene Autounfälle. Aus Erschöpfung, sagte Loman. Aber die Versicherungsgesellschaft hat eine Zeugin gefunden, die behauptet, Loman sei absichtlich gegen ein Brückengeländer gefahren.
Mit dem fleischigen Mund, dem kräftigen Körper, den gebeugten Schultern ähnelt Glodde Lee J. Cobb, der den Handlungsreisenden im Pulitzer-preisgekrönten Stück 1949 unter der Regie von Elia Kazan erstmals spielte. Ähnlich dramatisch wie Cobb einst seine zwiespältigen Charaktere darstellte, packt nun Glodde zu, riskiert das hohe Seil, sich von Willy Lomans Emotionen mitreissen zu lassen und gleichzeitig deren Hintergründe durchzugeben.
Vom gehauchten Gemütston des Feiglings rudert sich sein Loman in cholerische Ausbrüche, nur um sich mit diesen Restposten der Selbstbehauptung wieder zufrieden zu geben. Glodde zeigt, dass Loman sich halbbewusst absichtlich aufregt, um vom wesentlichen abzulenken, dass er sich mit seiner liebenswerten Fantasiebegabung zur emotionalen Manipulationsmaschine hat verkommen lassen. Betont er vor seiner Familie, wie wichtig es sei, beliebt zu sein, brodelt darunter die Empörungswut des Unterwürfigen. Beteuert er vor seiner Geliebten, er sei sehr beliebt, flackert in seinen Augen die nackte Angst, es könnte auch nicht so sein.
Die Churer Regisseurin Barbara-David Brüesch übertrage dieses Drama des amerikanischen Traums in "das Zeitalter von Risikogesellschaft, Finanzkrise und Existenzgründungen", kündigt das Theater selber an. Falls damit das unsere heutige gemeint sein sollte: ja, aber nicht direkt. "The Inside of His Head" sollte das Stück ursprünglich heissen, Miller wollte diese "einzige Masse von Widersprüchen" im Kopf Lomans darstellen. Darauf konzentriert sich Brüesch.
Die einzige, direkte Aktualisierung macht sie bei den Einschüben, in denen sich Loman in die Erinnerungen an eine glänzende Vergangenheit aus der ausweglosen Realität absentiert. Dort ist das Familienleben wie in den TV-Werbespots unserer Tage inszeniert: Das Licht ist überhell, alle strahlen, tragen weisse Sportsachen, agieren in überbordender Sportlichkeit zur heute verbreiteten Feelgood-Musik. Das ist nicht mal ironisiert dargestellt. Aber es frappiert.
Auch sind vom muffeligen Eigenheim (Bühne: Damian Hitz) nur der Eisschrank und der Küchentisch übrig geblieben. Dominant prangt ein, zuweilen aufleuchtender, mit Sternen flankierter Riesendiamant am Hintergrund. Denn Willys Bruder Ben, mit dem Loman in der Vorstellung Unterredungen hält, sei mit 17 Jahren nach Alaska gezogen, "mit nichts", habe dort Diamantenfelder gefunden. Wie eine Lichtgestalt im weissen Anzug, mit weissem Stetson und goldenen Ketten, eine seltsame Mixtur aus Sektenchef und Kokainmafioso, taucht Florian Müller-Morungen immer wieder auf, beantwortet Lomans Hilferufe mit eisiger Härte, sagt seine Heilssätze: "Ich zog in den Dschungel und als ich zurückkam, mit 21, bei Gott, da war ich reich."
Loman saugt diese Sätze gerührt auf wie Bibelzitate: seine Vorstellung vom grossen Auftritt, vom Wurf jenseits von Ratenzahlungen, Quartierenge, familiären Problemen. Dass Biff ihn mit einer Geliebten erwischte und daraufhin den Tritt verlor, seine höhere Reife schmiss, wird für ihn zum Lebensdorn. Anstatt sich zu stellen, befeuert er seinen Mythos des Erfolgreichen, erdrückt seine Söhne mit Grössenwahn, akzeptiert von ihnen nur den big deal, den er selbst nicht im Ansatz vermochte. Loman nicht bloss als Opfer einer unmenschlichen Effizienz- und Konkurrenz-Gesellschaft, sondern als Täter, der das Regelwerk aus Sehnsüchten und destruktiver Aggressivität soweit internalisiert hat, dass er es selber verkörpert: Diese Ambivalenz scheint uns Brüesch besonders nahelegen zu wollen.
Auch mit Hilfe seiner Frau Linda. Das zeigt die glänzend gespielte Szene am Küchentisch: Verhärmt sitzt Chantal Le Moign da, tränkt das Joghurt mit Eierlikör. Wenn sie ihren Söhnen mit vollem Mund eine Standpauke hält, spritzt sie mit dem Joghurt umher. Die Szene hat den eigentümlichen Charme, dass es lächerlich aussieht, man aber nicht lacht, weil es ernst ist. Denn ihre Not, wenn sie vom schwachen Charakter ihres Mannes redet, ist echt. Aber sie hat sich, passiv, zur Ko-Autorin von Lomans chronischem Lügnertum gemacht.
Brüesch gelang mit ihrem Basler Debüt ein saftiger Schauspielabend mit viel Zug, geboten von einem Ensemble, das seine Chance wahrnahm, die Rollen mit Lust auszuspielen. Kräftiger, langer Applaus mit Bravorufen. Dirk Gloddes Loman noch genauer zu beobachten, wäre ein Grund, ein zweites Mal hinzugehen.
25. Januar 2014