© Foto by Hassen Boussâda
"Im falschen Film": Verhaftung von Angehörigen der Präsidentengarde bei Tunis
Jasminduft und Pulverdampf
In Tunesien hat der Druck der Strasse ein selbstherrliches, arrogantes und korruptes Regime zu Fall gebracht
Von Beat Stauffer
Am Anfang stand die Revolte einer vernachlässigten und perspektivelosen jungen Generation. Innert Monatsfrist ist daraus eine machtvolle Bewegung geworden, deren Druck das Regime des Autokraten Ben Ali nicht widerstehen konnte.
Es mag auf den ersten Blick zynisch wirken, die jüngsten Ereignisse in Tunesien und insbesondere den Tod Dutzender junger Menschen mit dem üppigen Duftbouquet der Jasminblüte in Verbindung zu bringen. Und doch hat es Sinn. Denn zum einen ist Präsident Zine El Abidine Ben Ali, der am 14. Januar aus dem Land gejagte Herrscher über Tunesien, durch die sogenannte Jasmin-Revolution ins Amt gekommen; eine unblutige Machtergreifung, die sich formaljuristisch auf ein Gesetz abstützen konnte, wonach bei erwiesener Senilität des Präsidenten automatisch der Innenminister dessen Amt einnimmt. Genau dies geschah am 7. November 1987.
Seither regierte der ehemalige Geheimdienstoffizier Ben Ali als absolutistischer Herrscher über das kleine Maghrebland, pseudodemokratisch legitimiert durch eine Reihe von Wahlen, deren Resultate nicht nur von ferne an die Zeiten des Stalinismus erinnern. Als Autokrat trug er die Verantwortung für die Fehlentwicklungen, die zu den Tragödien der letzten Tage und Wochen führten. Dieser Verantwortung hat er sich durch seine überstürzte Flucht nun entzogen.
Ein lebensfroher Menschenschlag
Die Jasminblüte steht aber auch für einen spezifisch tunesischen Volkscharakter und Lebensstil, ohne den die 23-jährige Herrschaft Ben Alis nur schwer erklärbar ist. Jenseits platter Klischees darf konstatiert werden, dass die Tunesier ein eher lebensfroher, den angenehmen Dingen des Lebens zugeneigter Menschenschlag sind. Von ihren algerischen Nachbarn öfters als weich, feige und wenig kampfbereit karikiert, setzen die Tunesier gerne andere, je nach Sichtweise kleinbürgerliche oder hedonistische Schwerpunkte. Sie gelten als "Khobsistes", die dem täglichen Brot (Khobs heisst Brot), einer gesicherten Existenz und gewissen Annehmlichkeiten mehr Gewicht beimessen als abstrakten Idealen und Prinzipien.
Genau darauf hat Ben Ali seit den ersten Tagen seiner Herrschaft gesetzt. Er hat dem Volk Sicherheit vor islamistischer Agitation und einen gewissen, allerdings sehr relativen, Wohlstand in Aussicht gestellt, die bürgerlichen Freiheiten aber gleichzeitig von Jahr zu Jahr mehr eingeschränkt. Schwere Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung, politische Parteien wie auch zivilgesellschaftliche Organisationen wurden an straffer Leine geführt oder verboten, die Medienfreiheit war am Nullpunkt.
Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers
Das Regime scheute sich nicht, gegen Oppositionelle und kritische Bürger mit Brachialgewalt vorzugehen. Dabei wurden in den letzten Jahren wiederholt angesehene Anwälte, Menschenrechtsaktivistinnen und Professoren ins Gefängnis gesteckt, zusammengeschlagen oder auf andere Art drangsaliert. Auch ausländische Journalisten standen im Visier der Sicherheitskräfte; so kam es vor, dass unbequeme Rechercheure mit einer chemischen Beigabe zum Kaffee zeitweise ausser Gefecht gesetzt wurden.
Doch nun hat sich der in Tunesien allgegenwärtige, süssliche Duft des Jasmins mit scharfem Pulverdampf vermischt. In einer Provinzstadt im Hinterland ist es vor gut einem Monat, wie bekannt, zur Selbstverbrennung eines jungen Universitätsabgängers gekommen, der sein Dasein als Gemüse- und Früchtehändler fristen musste und dabei von den Behörden schikaniert wurde. Diese erste Verzweiflungstat löste eine Welle von zuerst friedlichen, später zunehmend gewalttätigen Protesten und Angriffen auf Symbole der staatlichen Macht aus, die sich wie ein Flächenbrand aufs ganze Land ausgeweitet hat.
Brachialgewalt der Ordnungskräfte
Der Umstand, dass die Ordnungskräfte auf diese Revolte mit unvorstellbar brutaler und vollkommen unangemessener Härte reagierten, trug letztlich entscheidend zum Sturz des Regimes bei. Die Bilder von Toten und Schwerverletzten in Provinzstädten im Hinterland, übers Internet und die neuen sozialen Netzwerke blitzschnell verbreitet, haben eine gewaltige Welle der Empörung ausgelöst, der das Regime ausser Polizeiknüppeln, Maschinengewehren und hohlen Phrasen nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Das Drama der vergangenen Wochen und Tage enthüllte die Realitäten hinter dem Image des kleinen, wirtschaftlich relativ erfolgreichen Maghreblandes. Denn wenn es zutrifft, dass die Tunesier "Khobsistes", Revolutionen und Aufständen eher abgeneigte Menschen sind, dann müssen die Proteste erst recht als Alarmzeichen gewertet werden.
Sie signalisieren zum einen, dass es in Tunesien ein seit Jahrzehnten vernachlässigtes Hinterland gibt, das von den durchaus wahrnehmbaren Fortschritten in den grossen Städten nichts oder nur wenig zu spüren bekommt. Vor allem aber sind die Proteste Ausdruck eines extremen sozialen Malaises, einer bodenlosen Verzweiflung; des Gefühls, zu kurz zu kommen und vom Staat und den Machthabern systematisch übergangen und verachtet zu werden.
Ben Ali liess sich feiern – das Volk verzweifelte
Sozialpsychologen werden sich vielleicht schon bald mit den vielschichtigen Motiven der jungen Manifestanten von Kasserine, Makhtar und Sidi Bouzid beschäftigen.
Die jungen Menschen in diesen armseligen Städten im Hinterland hätten schlicht das Gefühl, "im falschen Film" zu sein, beschreibt ein versierter Kenner der Verhältnisse die Lage, der aus Furcht vor Repressalien anonym bleiben möchte. Ihre gravierenden Alltagsprobleme und ihre prekäre Lebenssituation würden in der öffentlichen Debatte und nicht zuletzt in den Medien in keiner Art und Weise gespiegelt. Stattdessen seien die Menschen tagtäglich mit Meldungen über aussergewöhnliche Leistungen, Ehrungen und Auszeichnungen von Ben Ali bombardiert worden. Viele hätten dies schlicht nicht mehr ertragen.
Bodenhaftung längst verloren
Alles weist darauf hin, dass der gestürzte Präsident den Bezug zur Alltagsrealität seiner Landsleute schon lange verloren hatte. Indem er in einer Fernsehansprache am 10. Januar die Demonstranten als "Terroristen" brandmarkte, brachte er klar zum Ausdruck, dass er die politische Botschaft der Revolte in keiner Art und Weise verstand.
Gleichzeitig zeigte sich der Autokrat unfähig und unwillig zum echten Dialog mit seinem Volk und teilweise blind gegenüber den wahren Problemen; seine in wachsender Panik vorgebrachten "Lösungsvorschläge" zeugten von einem eklatanten Mangel an Visionen und Strategien, um den strukturellen Defiziten des Landes längerfristig zu begegnen.
Gewaltiges Vermögen zusammengerafft
Bis vor kurzem schien es, als geniesse der Herrscher trotz alledem immer noch eine gewisse Autorität, und sei es nur als Garant der inneren Sicherheit des Landes. Der Ruf seines gesamten Clans – insbesondere der Präsidentengattin, Leila Trabelsi, und ihrer Sippe – war aber schon seit Jahren katastrophal. Die zumeist ungebildeten Mitglieder der Familie haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten auf illegale oder halblegale Weise und ohne jede Hemmung ein gewaltiges Vermögen zusammengerafft und scheuen sich nicht, Macht und Reichtum schamlos zur Schau zu stellen.
Gerüchte über die dabei angewandten, meist äusserst kruden Methoden waren schon seit langem in jedem Café in Tunesien zu vernehmen. Insbesondere Leila Trabelsi, die "Regentin von Karthago", deren schwindelerregender Aufstieg aus einem kleinen Friseursalon an die Schalthebel der Macht im gleichnamigen Buch in allen Details nachgezeichnet wird, ist zum Hassobjekt ersten Ranges geworden.
Nun haben zahlreiche Mitglieder der "Familie" das Land fluchtartig verlassen; wären sie geblieben, hätten sie damit rechnen müssen, von der aufgebrachten Menge gelyncht zu werden. Viele ihrer Villen und Luxusautos wurden denn auch bereits geplündert und in Brand gesteckt.
Historisch für Tunesien und den Maghreb
Trotz dem Ausmass der Revolte – die letzten vergleichbaren Aufstände fanden 1984 statt und wurden von Ben Ali im Keim erstickt – glaubten die allermeisten Experten bis vor wenigen Tagen nicht an eine akute Gefährdung des Regimes. Anders die international bekannte Oppositionelle Sihem Bensedrine, die im Buch "Despoten vor Europa Haustür" die Herrscher des Maghreb in gnadenloser Schärfe analysiert hat: Sie vertrat schon früher die Meinung, Ben Ali werde diese Revolte nicht überstehen – und hat recht behalten.
Aus der Jugendrevolte ist ein landesweiter Aufstand geworden, der das Regime des verhassten Autokraten hinweggefegt hat. Die Konzessionen, die Ben Ali in den letzten 48 Stunden vor seiner Flucht machte, konnten seinen Thron nicht mehr retten.
Für Tunesien und den ganzen Maghreb ist dies ein historischer Moment. Ein friedliches Volk, das während Jahren von einem brutalen, räuberischen Regime drangsaliert wurde, verjagt seine Unterdrücker, ohne selber zu den Waffen zu greifen. Der Vergleich mit den Vorgängen in der ehemaligen DDR drängt sich auf, auch wenn vieles derzeit noch unklar ist.
Tunesien steht allerdings vor einer schwierigen, unsicheren Zukunft. Plünderungen, blutige Abrechnungen und Ausbrüche blinder Gewalt sind zu befürchten. Niemand weiss zurzeit, wie sich die Dinge entwickeln werden. Doch der bleierne Deckel, der während Jahrzehnten über dem Land des Jasmins lag, ist endgültig weggesprengt.
24. Januar 2011
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