© Fotos Sven Kramer, OLR
"Pferde sind keine Sportmaschinen": Qualvolle Extremhaltung als Perfektionsmerkmal
"No Mercy" - keine Gnade für die sensiblen Sportpferde
Wenn Pferde wie so oft schlecht geritten oder überfordert werden, gerät der Sport zur Tierquälerei
Von Matthias Brunner
Dopingskandale und tierquälerische Trainingsmethoden haben den Pferdesport entzaubert. Aber auch beim Ritt als Freizeitbeschäftigung ist ein drastischer Zerfall der Reitkultur zu verzeichnen. Leidtragende sind viele der sensiblen Pferde: Sie leben weniger lang, werden gequält, drehen durch.
Es geschah nach dem sechsten Hindernis, einem so genannten "Triple Barre" am CHIO Aachen, dem bedeutendsten Pferdeturnier der Welt: Bei der Landung nach dem Sprung rutschte das 14-jährige Holländer Pferd "No Mercy" unter seiner Reiterin Christina Liebherr weg. Unmittelbar darauf lahmte der Wallach. Bei der anschliessenden Untersuchung in einer Spezialklinik stellte sich heraus, dass sich das Turnierpferd einen Sehnenriss zugezogen hatte – Ende der Karriere.
Dabei hat der noble Vierbeiner noch Glück im Unglück. Er landet nicht im Schlachthaus, er darf auf die Weide und dort in aller Ruhe sein Gnadenbrot futtern. Denn alarmierende Tatsache ist: Für viele Artgenossen von "No Mercy" ist dessen Name Programm und Schicksal zugleich: "Keine Gnade".
Wer an einem sonnigen Wochenende im Leimental bei Basel spazieren geht, trifft unweigerlich auf Pferde – oder muss zumindest darauf achten, nicht in eine ihrer "Hinterlassenschaften" zu treten. Der "Apfel" fällt nicht weit vom Pferd, und während sich die Einen über die vielen Pferde ärgern, finden immer mehr Menschen – hauptsächlich Mädchen und Frauen – Gefallen am Reiten. Sie sind fasziniert von den starken Prachtstieren, von ihrer Anmut, von ihrem sensiblen Wesen. Trotz Wirtschaftskrise ist der Pferdebestand mit geschätzten 85'000 Equiden – dazu zählen auch Esel, Maulesel und Maultiere – in der Schweiz so hoch wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Besonders viele Pensionsställe befinden sich in der Region Basel.
Galoppierender Zerfall der Reitkultur
Grotesk: Obwohl Reiten heute ein beliebtes Hobby darstellt, ist gleichzeitig ein enormer Verlust des Wissens über Pferde und der einst hoch stehenden Reitkultur zu beklagen. Davon zeugen etwa die traurigen Bilder von so genannten Freizeitreitern, die sich wie nasse Säcke von ihrem treuen vierbeinigen Kameraden durch die Gegend schleppen lassen – in Turnschuhen, verschmutzten Jeans und womöglich noch einer Zigarette im Mund oder dem Mobiltelefon am Ohr. Das Pferd nur notdürftig geputzt, mit Strohhalmen im Schweif – man will ja schliesslich keine Zeit verlieren, da noch andere Freizeitbeschäftigungen auf dem umfangreichen Wochenendprogramm stehen.
Dann fällt noch eine andere Gruppe auf, jene der ehrgeizigen Amateurreiter und -reiterinnen. Diese behandeln das Pferd oft wie ein Sportgerät. So lassen sich Wochenende für Wochenende auf Reitsportanlässen in der Region regelmässig die gleichen Trauerspiele beobachten: Pferde, die wie Geschenkpakete mit allerlei Lederzeug zusammengeschnürt sind. So ausgestattet wird das Reittier über die Hindernisse gejagt. Mag es einmal nicht auf Kommando springen, knallt schon die Peitsche auf den Hintern. Dabei war wahrscheinlich gerade für dieses Tier die Hürde zu hoch – oder der Reiter hat den Anlauf falsch eingeschätzt. Schafft es das Pferd nicht über das Hindernis, knallt es mit seinen schlanken Beinen ungebremst gegen die harten Stangen.
Schläge für Topleistungen
Die Dressurszene pflegt gerne das völlig unberechtigte Image, besonders nobel und gediegen zu sein. Was sich im Dressurviereck tatsächlich abspielt, lässt aber häufig jegliche Noblesse vermissen. Da wird mit eiserner Hand über die Zügel am empfindlichen Pferdemaul gezerrt, damit das Tier ja die Nase unten behält, während sich von der Seite die Sporen unerbittlich in die Flanken bohren. Auf diese Art wird mit übertriebenem Ehrgeiz versucht, das fehlende reiterliche Vermögen wettzumachen. Leider ist kaum je ein Turnierrichter zur Stelle, um solche und ähnliche Quälereien zu kritisieren.
Profi-Reiter müssten von ihrer Ausbildung her wissen, wie mit Pferden korrekt umgegangen werden soll. Trotzdem geben oft gerade sie ein jämmerliches Beispiel ab. Da wird dann beim Training schon mal mit Stangen gegen die empfindlichen Pferdebeine geschlagen, damit die einstigen Steppentiere über bis zu 160 Zentimeter hohe Hürden springen. Oder dem bedauernswerten Pferd wird in der Dressurprüfung der Kopf bis auf die Brust heruntergezwungen, nur um die angestrebte Position zu erreichen. Damit nicht genug: Spätestens seit der letzten Olympiade in Hongkong wissen alle, dass auch im Pferdesport das illegale Doping gang und gebe ist. Selbst Olympiasieger Ludger Beerbaum gab offen zu: "In der Vergangenheit hatte ich die Haltung: Erlaubt ist, was nicht gefunden wird."
Vom Ackergaul zum Parcours-Athlet
Dies alles geschieht natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, geht doch in der Profi-Reitszene nichts über Diskretion. Für einen Aussenstehenden besteht kaum eine Möglichkeit, die angewandten Trainingspraktiken zu beobachten oder von den kostbaren Pferden in ihren Ställen auch nur einen Blick zu erhaschen. Vor allem im internationalen Reitsport ist viel Geld im Spiel. "Die Pferde sind sozusagen meine Geschäftspartner", meinte der bekannte Schweizer Springreiter Markus Fuchs in einem Interview in der "Basler Zeitung" lapidar. Sein Verhältnis zu den Pferden sei eher rational als emotional.
Weshalb besteht heute so viel Unverständnis gegenüber Pferden? Hier drängt sich ein kurzer Exkurs in die Vergangenheit auf. Noch bis Ende des Zweiten Weltkriegs spielten Pferde auch in der Schweiz eine wichtige Rolle. Einerseits waren sie in der Landwirtschaft unerlässlich, dann als Zug- und Reittiere, bevor sie allmählich vom Auto abgelöst wurden, sowie in der Armee. Erst Mitte des letzten Jahrhunderts bahnte sich durch die rasche technische Entwicklung eine komplette Änderung an und die Pferde wurden fortan hauptsächlich noch für den Sport und die Freizeit genutzt.
"Pferdefreunde" verkürzen Pferdeleben drastisch
Doch der Umgang und die Ausbildung von Pferden konnten hierzulande mit dieser relativ rasanten Entwicklung in keiner Weise Schritt gehalten. Erst seit letztem Jahr sind Pferde überhaupt als Tierart im Tierschutzgesetz erstmals speziell erwähnt. So dürfen die sanftmütigen Vierbeiner beispielsweise nicht mehr die ganze Zeit über allein in Boxen eingesperrt bleiben, wie dies bis jetzt in den meisten Pensionsställen noch der Fall gewesen ist. Doch über den Umgang mit den Pferden und über ihre Ausbildung steht in den Paragraphen kaum Konkretes. Grund genug für den Schweizer Tierschutz (STS), in Olten eine Fachtagung durchzuführen.
200 Pferdenärrinnen, Verbandsvertreter, Ausbildner, Behördenmitglieder, Tierschützerinnen und Privatpersonen folgten der Einladung unter dem Titel "Pferdesport – Fairness im Sattel". Anhand der Biomechanik erklärte der bekannte deutsche Tierarzt und Ausbilder Gerd Heuschmann, dass von Pferden oft Körperhaltungen verlangt werden, die ihre natürlichen anatomischen Voraussetzungen überfordern. "Ich kämpfe dafür, dass wir endlich wieder feingerittene Pferde sehen!", plädierte Heuschmann, der seit Jahren in ganz Europa Vorträge hält. Anhand von Bildern aus seinem Buch "Finger in der Wunde" und Filmsequenzen seiner DVD "Stimmen der Pferde" zeigte er drastische Beispiele von tierschutzrelevantem Reiten.*
Die falsche Belastung von Pferden hat drastische Folgen: Gemäss den wissenschaftlichen Untersuchungen erreichen Pferde heute im Durchschnitt nur noch ein Alter von acht Jahren – dies bei einer möglichen Lebenserwartung von bis zu 30 Jahren. Die körperlich falsche Belastung wirkt sich jedoch auch negativ auf die Psyche eines Pferdes aus, wie die Tierärztin und Sportpsychologin Ulrike Thiel warnte. Die Folgen sind Verhaltensstörungen und psychosomatische Erkrankungen. Häufig steht nicht einmal eine böse Absicht hinter solchem Umgang mit Pferden, sondern schlicht Ignoranz und Unwissen. Was für Kavalleristen einst selbstverständlich war, ist heute längst vergessen. Dies ist allein schon deshalb eine Tragödie, weil Pferde stumm vor sich hinleiden, da sie Schmerzen nicht über Lautäusserungen ausdrücken können.
Pferde-Gurus predigen alte Weisheiten in neuer Form
Es sind vor allem Leute aus der Freizeitreitszene, die sich für pferdeschonendere Reitweisen interessieren. Spätestens seit dem Film "Der Pferdeflüsterer" mit Robert Redford in der Hauptrolle boomt die Branche jener Pferdeausbilder, die alternative Methoden vermitteln. Häufig sind es smarte Männer mit Cowboy-Hut aus den USA, welche das – zumeist weibliche – staunende Publikum in Scharen zu ihren Seminaren anziehen und mit ihren Vorführungen durch die halbe Welt tingeln.
Das Spektrum bewegt sich zwischen Westernstil, esoterisch angehauchten Methoden bis zum angeblich indianischen Reiten. Typisch amerikanisch wird das Ganze meistens von einer gut geölten PR-Maschinerie begleitet, die neben den Kursen selbstverständlich DVDs, Bücher sowie spezielles Reitzubehör zu happigen Preisen umfasst. Die Botschaft ist zwar unterschiedlich verpackt, beinhaltet aber zumeist den Anspruch, besonders sanft und pferdefreundlich zu sein. Ein gängiger Begriff dafür ist das so genannte "Horsemanship". Gemeint ist damit schlicht ein insgesamt freundlicher Umgang mit dem Tier.
Knie-Pferde geniessen Lebensstelle
Einer, der den Pferden mit höchstem Respekt und Einfühlungsvermögen begegnet und sie so sanft und bestimmt zu den unglaublichsten Leistungen anspornt, ist der Zirkusfachmann Fredy Knie jun. Aus der Sicht des vorbildlichen Praktikers fasste er gegenüber OnlineReports sein Erfolgsrezept in einem einzigen Satz zusammen: "Man muss immer das Tier in den Vordergrund stellen, sonst hat man sein Ziel nicht erreicht." Schon sein Vater hatte das Ausbildungsziel unmissverständlich festgehalten: "Dressur muss sichtbar gewordene Liebe sein!" Dass es sich dabei nicht um eine leere Floskel handelt, davon können sich Interessierte selber überzeugen.
Denn die Proben im Circus Knie sind traditionsgemäss öffentlich: "Wir haben nichts zu verbergen", sagt Fredy Knie jun. Offenbar scheint dieses Umfeld den Pferden zu behagen, sonst würden kaum einzelne der vierbeinigen Artisten noch selbst im Alter von 25 Jahren in der Manege auftreten. Doch selbst wenn ein Pferd nicht mehr mit auf Tournee kann, bleibt es bei den Knies im Winterquartier in Rapperswil und wird weiterhin gepflegt und bewegt: Die vierbeinigen Artisten bleiben bis zu ihrem Lebensende bei der Zirkus-Dynastie – als verehrte Familienmitglieder.
Zurück zur guten klassischen Reitkunst!
Die Experten waren sich am Podium der STS-Tagung in einem Punkt einig: Die klassische Reitweise schont den Rücken der Pferde am besten und bringt ausserdem ihre erhabene Haltung erst richtig zur Geltung. Grundvoraussetzung dafür ist ein perfekt ausbalancierter Sitz des Reiters, so dass er die Hilfengebungen (Befehle) mittels Handeinwirkung und Beinen mit der Zeit laufend minimieren kann, bis diese von aussen beinahe unsichtbar werden.
Ihre Perfektion fand diese Form des Reitens bereits während der Barockzeit in Frankreich. Der damals als "Sonnenkönig" bezeichnete Louis XIV. war ein ausgesprochener Liebhaber von Pferdevorführungen. Zu diesem Zweck liess er bei seinem Schloss in Versailles vor den Toren Paris’ riesige Stallungen und eine prunkvolle Reithalle errichten. Während dieser Zeit wurde das Reiten unter berühmten Reitmeistern wie François Robichon de la Guérinière (1688-1751) zu einer eigentlichen Kunstform emporgehoben. Sie gilt bis heute als pferdegerechte Ausbildung. Doch die Ursprünge dieser klassischen Reitkunst reichen bis ins antike Griechenland zurück. Bereits in seinen Schriften mahnt der Philosoph und Heerführer Xenophon (ca. 430 bis 356 v. Chr.): "Das Pferd sei zuverlässiger Freund, nicht Sklave!"
Daraus folgt für wahre Pferdefreunde die Erkenntnis, sich immer wieder selbst zu hinterfragen, wenn eine Lektion nicht wie gewünscht klappt, und zu versuchen, sein Pferd zu verstehen. Für den ehrgeizigen Pferdesportler aber bedeutet die Forderung des Sokrates-Schülers Xenophon vor allem dies: Das Pferd ist ein Tier, keine Sportsmaschine.
* Buch "Finger in der Wunde" von Gerd Heuschmann, Wu Wei Verlag, ISBN: 978-3-930953-20-2. Ergänzend zum Buch die DVD "Stimmen der Pferde", ebenfalls Wu Wei Verlag.
10. Juli 2009
Weiterführende Links:
Drohung mit Prozess
mb. Nachdem sich eine international bekannte Turnier-Reiterin aus Österreich offenbar durch eine Filmsequenz in der DVD "Stimmen der Pferde" blossgestellt fühlte, reichte sie gegen den Wu Wei Verlag eine Klage ein, der die DVD herausbrachte. Nun einigten sich Streitparteien auf einen Vergleich. Die Dressur-Reiterin hat damit erreicht, dass bei einer Neuauflage der DVD die Filmsequenz, auf der sie mit ihrem Pferd auf dem Abreitplatz zu sehen ist, verfremdet werden muss. Noch ist aber die Originalversion erhältlich.
Auf der Homepage "Stimmen-der-Pferde.de" äussert sich die Verlegerin Isabella Sonntag folgendermassen: "Zu dem Vergleichsabschluss habe ich mich trotz der fehlenden Erfolgsaussichten der Klage entschlossen, weil ich kein Interesse an überflüssigen rechtlichen Auseinandersetzungen habe und die Zeit lieber für meine dem Wohl des Pferdes dienende Verlagsarbeit verwende."
Es ist nicht neu, dass für ihre Praktiken kritisierte Pferdesportler schnell mit einem Prozess drohen - zum Teil mit Erfolg. Der obenstehende Artikel des freiberuflichen Autors wurde von verschiedenen Pferdezeitschriften als zu "einseitig" abgelehnt. Offenbar wirkt hier bereits die Selbstzensur, um die Leserschaft, die auch aus den kritisierten Reiter (oder solche, die sich betroffen fühlen) besteht, nicht zu erzürnen.
"Sports-Ambitionen über Tier-Gesundheit"
Ja, leider gibt es immer wieder "Menschen, die ihre sportlichen Ambitionen über die Gesundheit ihrer Tiere stellen. Oder einfach nur ihre Machtgelüste auf dem Buckel ihrer bemitleidenswerten Opfer ausleben. Zum Glück gibt es auch andere, wie der Autor ganz richtig bemerkt.
Beim Lesen des Artikels ist mir ein Text in den Sinn gekommen, den ich mir zu Hause an die Wand gehängt habe und den ich mir oft ganz bewusst in Erinnerung rufe:
"Gebet eines Pferdes"
Bitte sei gut zu mir und ich werde Dir noch freudiger dienen und Dich gerne haben.
Reiß nicht an den Zügeln, greif nicht zur Peitsche, wenn es aufwärts geht. Schlage und stoße mich nicht, wenn ich Dich missverstehe, sondern gib mir Zeit, Dich zu verstehen.
Halte mich nicht für ungehorsam, wenn ich Deinen Willen nicht erfülle. Vielleicht sind Sattelzeug und Hufe nicht in Ordnung.
Prüfe meine Zähne, wenn ich nicht fressen mag, vielleicht tut mir ein Zahn weh. Du weißt, wie das schmerzt.
Halte mich nicht zu kurz und kupiere meinen Schweif nicht, denn er ist meine einzige Waffe gegen Fliegen und Mücken.
Und wenn es einmal zu Ende geht, lieber Herr, wenn ich Dir nicht mehr zu nützen vermag, lasse mich bitte nicht hungern und frieren.
Und verkaufe mich nicht. Liefere mich keinem Fremden aus, der mich langsam zu Tode quält und mich verhungern lässt. Sondern sei so gütig und bereite mir einen schnellen, barmherzigen Tod. Gott wird es Dir lohnen, hier und in Ewigkeit.
Lasse mich dies von Dir erbitten und glaube nicht, dass es mir an Ehrfurcht fehlt, wenn ich es im Namen dessen tue, der in einem Stall geboren wurde.
Amen
Würden wir uns doch alle und immer daran halten.
Juan Garcia, Ziefen