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Die Schweiz – ein MärchenlandBuch: Der Historiker Christoph Dejung erzählt die Geschichte des Landes und stellt ein "berechnetes Zuspätkommen" fest Von Aurel Schmidt Christoph Dejung ist Historiker. Er war lange Zeit Lehrer und ist heute froh, dem "zur Lächerlichkeit verurteilten Lehrerberuf" entkommen zu sein. Warum diese grimmigen Worte? Dejung meint, dass wir in einem überreglementierten Land leben, das heisst in Verhältnissen, in denen die "Ökonomisierung der Denkweise" so weit fortgeschritten ist, dass Bildung, Kultur, Gemeinwesen, Gesundheit heute von einem "Gewerbe von Besserwissern" in die Enge getrieben worden ist. Dejungs Mahnung: Lasst die Menschen, die ihren Beruf ausüben, zum Beispiel die Lehrerschaft oder die im Gesundheitswesen Arbeitenden, dies in aller Freiheit tun, ohne dass ihnen unqualifizierte Experten dauernd ins Geschäft dreinreden.
Das ist eine scharfe Kritik am Bildungsunwesen der Schweiz. Sie steht am Ende von Dejungs Buch "WiderspruCH", in dem er als Zeitgenosse die Geschichte der Schweiz von 1945 bis heute erzählt. Genau so: Geschichte wird erzählt, so wie Geschichten von Wolf und Bär im Märchen erzählt werden, jenen Tieren, die in der Schweiz wieder ansässig werden, was Dejung als hoffnungsvollen Ausblick begreift.
Die Schweizer Geschichte kann entweder auf eine national-konservative, affirmative oder eine kritische Art erzählt werden. Dejung steht im Widerspruch mit der überlieferten Geschichte des Landes, wie es sich für einen unabhängigen Kopf gehört. Es ist nur folgerichtig, dass er mit einer Anzahl von Mythen aufräumt: Mit dem armen Bauernvolk, mit dem Problem von Anpassung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg, mit der uralten Demokratie. Mit Wilhelm Tell sowieso. Er ist nicht bereit, sich mit den historischen Mythen abzufinden oder einfach nur mit der Schönrednerei, die zu vieles verdeckt, das nicht stimmt. Was nicht stimmt, breitet er in 13 Kapiteln aus, Schritt für Schritt, bis an den Rand des noch knapp Erträglichen. Die Geschichte der Schweiz ist kein Jubelanlass.
Bis 1960 konnte die Schweiz als Musterland gelten. Danach musste das Land Abschied nehmen von einer idealisierten Vergangenheit. Umso schwerer fällt jetzt die Aufarbeitung aus.
Zum Beispiel diagnostiziert Dejung eine "Demokratie der Entpolitisierung", die von einer Überbetonung der Wirtschaftsmacht verursacht wird. Die Schweizer sind ein misstrauisches Volk – aber misstrauisch aus einem hoch entwickelten Geschäftssinn. Zuerst gefielen sie sich in der Rolle des Widerstands, wo doch nur eine zwingende Kollaboration stattgefunden hat. Später verbreitete sich ein "hochgemuter Pessimismus" (Karl Meyer): Man war auf das Schlimmste gefasst und sah schwarz aus Vorbeugung (Zivilschutz, der im Unterschied zum Umweltschutz ein gutes Geschäft wurde). Die Schweiz misstraute der Welt und meinte, allen Grund dazu zu haben. Sicherheit war immer eine wichtige Agenda. Als es dann doch nicht so schlimm kam, gehörte man zum Kreis der Auserwählten, die im Nachhinein recht gehabt hatten.
"Die Schweiz misstraute der Welt und meinte, Demokratisch war die Schweiz tatsächlich immer, nur nicht im zeitgemässen Sinn von Rechtsstaatlichkeit. Kompromisse wurden zur Tugend erklärt, obwohl sie allen Entscheidungen etwas Unklares gaben. Soziale Kompromisse wurden abgelehnt als unvereinbar mit der Freiheit. Die Schweizer und Schweizerinnen stimmten gegen ihre Interessen und hielten dies wahrscheinlich für eine besondere Form von Patriotismus. Was soll man mit einem solchen Volk auch nur anfangen? Dejung konstatiert bei den Schweizer ein "berechnetes Zuspätkommen" und damit implizit eine Verleugnung des Politischen. Auch hier wieder müsste man fragen: Warum? Die Antwort schimmert durch die Zeilen: Die Schweiz ist ein verwöhntes Land. Man kann sich viel Unfreiheit leisten.
Christoph Dejung: WiderspruCH. Auch eine Schweizer Geschichte seit 1945. Huber Verlag. 39.80 Franken. 20. September 2008
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