© Fotos by Claude Giger picturebale.ch und Beat Stauffer
"Taschen voller Diebesgut": Basler Empfangszentrum "Bässlergut"
Dunkle Helfer des Ben Ali-Regimes suchen Schutz in der Schweiz
Unter den tunesischen Asylbewerbern befinden sich auch ehemalige Polizeispitzel und Kleinkriminelle
Von Beat Stauffer
Überdurchschnittlich viele tunesische Asylbewerber treten – auch in Basel – aggressiv auf und bringen ihre Landsleute in Verruf. Unter ihnen befinden sich geflüchtete Häftlinge, Kleinkriminelle und ehemalige Polizeispitzel aus dem Regime des gestürzten Diktators Ben Ali.
Unangenehme Erfahrungen machte der Gymnasiallehrer L. A.* im Basler Gundeldinger-Quartier. Als er an einem Abend Ende November durch eine ruhige Seitenstrasse ging, um seinen dort wohnhaften Vater zu besuchen, kamen ihm plötzlich ein paar offensichtlich angetrunkene junge Männer entgegen. Sie grölten, spuckten und stiessen mit den Schuhen gegen parkierte Autos.
A., der schon mehrfach in Tunesien gewesen war und ihre Sprache identifizieren konnte, wechselte sofort die Strassenseite. Er habe sich gegenüber diesen aggressiven jungen Männern äusserst unwohl gefühlt und vor allem Angst gehabt, sein fast 90-jähriger Vater könnte eines Tages ausgeraubt werden, berichtet der Lehrer.
Mann überfallen, Helferinnen niedergeschlagen
Wenige Tage zuvor war im Nachbarhaus ein 87-jähriger Mann von zwei arabisch aussehenden jungen Männern überfallen worden. Zwei im Haus wohnhafte Frauen, die dem betagten Nachbarn zu Hilfe eilten, wurden von den Angreifern zusammengeschlagen.
Der Pädagoge A. ist ein unverdächtiger Zeuge: Als eher links stehender Zeitgenosse mit einem Flair für die arabische Welt steht er ausser Verdacht, in dieser Hinsicht rassistischen Klischees zu erliegen.
Am späten Abend des 19. Januar war der 25-jährige tunesisch-schweizerische Doppelbürger Maher* mit zwei Kollegen auf der Langstrasse unterwegs, als die Gruppe unvermittelt von drei jungen Männern angegriffen wurde. Obwohl sich Maher sofort auf Arabisch als Landsmann zu erkennen gab, kam es zu einem heftigen Handgemenge. Einem von Mahers Kollegen gelang es, die Polizei zu alarmieren. Minuten später war ein Streifenwagen zur Stelle, und die drei Angreifer konnten verhaftet werden. Es waren Asylbewerber aus Tunesien.
Krasser Kontrast zu heldenhaften Taten
Fälle wie die hier beschriebenen haben sich in den vergangenen Monaten derart gehäuft, dass auch wohlmeinende Beobachter die Stirn runzeln, wenn insbesondere von tunesischen Asylbewerbern die Rede ist.
Der Kontrast zu den Berichten über das mutige und uneigennützige, ja heldenhafte Verhalten junger Tunesier während der Revolution und die grosse Solidarität der tunesischen Bevölkerung mit den hunderttausenden von Flüchtlingen aus Libyen ist eklatant. Gleichzeitig sorgen sich in der Schweiz lebende Maghrebiner um ihr Image, das, so ihre Erfahrung, in den vergangenen Monaten stark gelitten habe. Sie haben das grösste Interesse daran, Licht in diese düstere Sache zu bringen.
Unbescholtene gehen Landsleuten aus dem Weg
Im Basler Kaffeehaus "Mitte", einem beliebten Treffpunkt direkt neben der Hauptpost, verkehren auch viele Menschen arabischer Abstammung. Zwischen den Tunesiern, die hier legal leben, und denjenigen aus verschiedenen Durchgangszentren und Wohnheimen, herrscht allerdings sein einigen Wochen dicke Luft. Der Imageschaden durch die jüngsten Vorfälle für diejenigen, die hier unbehelligt leben möchten, ist gewaltig, und viele gehen ihren ungeliebten Landsleuten tunlichst aus dem Weg.
Die Angst um das eigene Image ist wohl auch der Hauptgrund, weshalb sich jetzt die Zungen lösen. Zwar war schon im Februar 2011 bekannt, dass nicht nur Unschuldslämmer die Meerenge von Sizilien überquert haben. Doch die meisten Kenner der Verhältnisse zogen es vor, nicht über diese Dinge zu sprechen. Heute aber, so findet die Tunesien-Schweizerin Saida Keller Messahli, sei es Zeit, die Dinge zu benennen. Und der marokkanisch-schweizerische Doppelbürger Kader Tizeroual befürchtet, die hier lebenden Maghrebiner müssten schon bald die Rechnung für das oft aggressive und arrogante Verhalten dieser Asylbewerber bezahlen.
Häftlinge und kleine Polizeispitzel
Als in den rund drei Wochen nach der Sturz des alten Regimes die Küstenwache nicht mehr richtig funktionierte, nutzten rund 25'000 junge Tunesier die Gelegenheit, um sich nach Europa abzusetzen. Darunter waren viele junge Arbeitslose und Desperados, die schon lange emigrieren und auf der anderen Seite des Mittelmeers ganz einfach ein besseres Leben suchen wollten.
Auf den Booten (Bild: Küste im südtunesischen Zarzis) befanden sich aber auch Passagiere eines anderen Kalibers: Geflohene Häftlinge, kleine Polizeispitzel, möglicherweise auch Polizisten, die wegen ihrer Untaten sowohl von der tunesischen Bevölkerung als auch von den neuen Behörden nicht allzu viel Nachsicht erwarten durften.
Für die These, dass sich unter den tunesischen Migranten auch zwielichtigen Figuren befinden, gibt es mittlerweile zahlreiche Indizien. So existieren zum einen mehrere Augenzeugenberichte, wonach sich unter den jungen Männern, die nach dem 14. Januar in Richtung Lampedusa aufgebrochen waren, auch entwichene Häftlinge befunden haben.
Gelegenheit zur Flucht benützt
Bekanntlich gelang in jenen Tagen rund 11'000 Gefängnisinsassen in Tunesien die Flucht. Höchstwahrscheinlich waren sie von Agenten des alten Regimes befreit worden, um das Land in ein Chaos zu stürzen. Aktenkundig wurde dies in den Fällen, in denen Boote, die wegen schlechten Wetters oder Motorenschadens umkehren mussten, von den Hafenbehörden kontrolliert wurden; laut tunesischen Medien wurden dabei wiederholt entflohene Häftlinge festgenommen.
Klare Indizien für diese These lassen sich mittlerweile auch in der Schweiz finden. Hans Batrun*, Leiter eines grossen Durchgangszentrums im Schweizer Mittelland, berichtet von zwei Asylbewerbern, die ihm ins Gesicht gesagt haben, sie könnten nicht nach Tunesien zurückkehren, weil sie von dortigen Gerichten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden seien. Dabei sei das Stichwort "Omicidio" - Mord - gefallen.
Eine vergleichbare Erfahrung machte auch Saida Keller-Messahli: Sie hatte einen Asylbewerber aus Tunesien betreut, der in einem Durchgangsheim im Kanton Aargau in eine Schlägerei geraten und schwer verletzt worden war. Ihr Mandant, ein "absolut friedlicher Mensch", sei durch gewisse gewalttätige Mitbewohner – Tunesier und Algerier – regelrecht terrorisiert worden.
"Untypisch" für junge Tunesier
Auch Hassan Boubakri, Professor für Geographie an der Universität Sousse und Migrationsexperte, hält die These, dass sich unter den in der Schweiz gestrandeten Migranten auch entflohene Häftlinge befinden, für plausibel. Weit grösser, so Boubakri, sei aber vermutlich der Anteil an Kleinkriminellen und Randständigen aller Art, die unter dem Ben Ali-Regime häufig als Polizeispitzel ein Auskommen gefunden hatten. Diese hätten im Februar letzten Jahres wohl die Gelegenheit am Schopf gepackt, das Weite zu suchen.
Diese Schilderung deckt sich mit den Erfahrungen von Abdou Belbahi. Der pensionierte Französischlehrer wurde vom Zürcher Migrationsamt zu Hilfe gerufen wurde, um in einem Durchgangsheim als Vermittler zu wirken. Viele der jungen Männer entsprächen diesem "Profil". Dazu gehöre ein grobschlächtiges Verhalten und ein Jargon, den nur Insider entziffern können (vgl. Box unten).
Dieses auffällige Verhalten erachtet Kader Tizeroual, interkultureller Berater in Basel, als "untypisch" für junge tunesische Männer. Es sei ein Indiz, dass die Betreffenden sich diesen "Code" schon lange zuvor angeeignet und in einem entsprechenden Milieu gelebt hätten.
Altlasten des Ben Ali-Regimes
Durchaus denkbar ist, dass sich unter den Asylsuchenden aus Tunesien auch Polizisten oder gar Folterknechte befinden, die dem gestürzten Regime gedient hatten. So hatte etwa Belbahi bei seinen Besuchen im Durchgangszentrum Zollikerberg den Eindruck, dass sich ehemalige Agenten des Geheimdienstes, die zuvor ihre Landsleute in der Schweiz und anderswo ausspioniert hatten, unter die Asylsuchenden gemischt haben. Boubakri vermutet hingegen, solche Figuren hätten vielmehr alles Interesse daran, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Sollte sich diese Hypothese bewahrheiten – und sehr vieles spricht dafür –, so hätte Tunesien einen Teil der "Altlasten" des Ben Ali-Regimes nach Europa entsorgt. Es ist nachvollziehbar, dass die tunesische Regierung angesichts hoher Arbeitslosigkeit und anderer Probleme bis heute keinen grossen Eifer an den Tag legt, diese Migranten zu repatriieren.
Diebesgut im "Bässlergut"
Wie gross ist der Anteil dieser zwielichtigen Figuren an den insgesamt rund 2'500 Asylbewerbern aus Tunesien ist, beantworten die befragten Fachleute unterschiedlich. Die Schätzungen schwanken zwischen rund 20 bis gegen 50 Prozent. Schon ein paar wenige kriminelle Figuren genügten allerdings, um viele andere, korrekte Asylbewerber in Versuchung zu bringen, meint ein Leiter eines Durchgangsheims.
Ein Informant berichtet von einem marokkanischen Asylbewerber, der mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, dass seine tunesischen Mitbewohner im vergangenen November Tag für Tag Einkaufstaschen voll mit gestohlenem Diebsgut ins Basler Empfangszentrum "Bässlergut" schleppten, ohne dass etwas geschah. "Wir holen uns nur, was uns zusteht", rechtfertigten die Diebe ihre Handeln.
Während in Basel, Zürich oder Chiasso Millionen von Franken für die Betreuung von überaus schwierigen "Klienten" verpulvert wird, warten die Menschen im tunesischen Sidi Bouzid, wo der Volksaufstand begann, in Kasserine oder in Tataouine bisher vergeblich auf Unterstützung – ganz im Gegenteil: Hunderte schwer verletzter Demonstranten dämmern, nur notdürftig versorgt, vor sich hin und leben unter prekären Bedingungen. Gleichzeitig fehlt initiativen jungen Menschen, die Projekte in ihren Dörfern und Städten verwirklichen möchten, das Startkapital.
* Namen geändert
Kommentar von Peter Knechtli zur grassierenden "Abenteuer-Migration"
29. Januar 2012
Weiterführende Links:
Ein verräterischer Code
Den Code, anhand dessen sich der Unterschied zwischen Arbeitsmigranten und Kollaborateuren des alten Regimes machen lässt, kennen nur Maghrebiner. Erforderlich sind zudem psychologische Kenntnisse sowie die Bereitschaft, derartiges Wissen publik zu machen; von einem Teil der maghrebinischen Community dürfte dies als "Verrat" ausgelegt werden.
Zu diesen Kennern gehört der interkulturelle Berater Kader Tizeroual. Für ihn besteht ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Arbeitsmigranten beziehungsweise Kleinkriminellen und Kollaborateuren in bestimmten sprachlichen Wendungen, die zum Ausdruck bringen, dass Letztere vom Regime geschützt waren.
"Ich würde für dich nicht mal die Kosten für einen Telefonanruf ausgeben", bedeutet, dass die Betreffenden darauf verzichten, ein Polizeikommissariat zu kontaktieren. "Wenn es noch wie früher wäre, würde ich dich in die Kälte schicken", lässt sich ganz ähnlich interpretieren; "Kälte" oder "kaltes Zimmer" muss als unterirdische Gefängniszelle verstanden werden, von denen es im Tunesien Tausende gab.
Auf solche Weise, so Tizeroual, äussern sich nur Figuren mit direkten Beziehungen zu den alten Sicherheitsapparaten. Aufgrund solcher und anderer Merkmale liesse sich mit nicht all zu viel Aufwand die "Spreu" vom "Weizen" trennen.