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"Wo die Leute ins Schleudern kommen": Wohnraum-Forscherin Gehriger
Wohnungsmarkt: "Die Gentrifizierung in Basel existiert definitiv"
Luisa Gehriger erforscht unter Mietenden Ursachen und Folgen der Verdrängung aus dem Wohnraum
Von Peter Knechtli
Der Basler Wohnungsmarkt entwickelt sich dynamisch, aber allmählich auch die kantonale Wohnbaupolitik. Was während Jahrzehnten Sache des privaten Marktes war, gerät zunehmend unter regulatorischen Einfluss des Staates. Das hat seinen Grund: Die Verdrängung von Mietenden etwa durch Massenkündigungen wirft eine grundlegende soziale Frage auf.
Es war ein Jugendprotest, der angesichts der Klima-Bewegung schon beinahe in Vergessenheit geraten ist: Die Auflehnung gegen die Basler Wohnraumpolitik, die vor ziemlich genau zehn Jahren in einer wüsten Feuer- und Gewaltorgie am besetzten Voltaplatz ihren Höhepunkt erreichte. Zwar beherrschten die chaotischen Vorfälle die Schlagzeilen der Medien, aber der politische Kern der Auflehnung betraf eine Entwicklung, die heute, wie die neuste Wohnschutz-Abstimmung vom 28. November zeigt, zu den ebenso bedeutendsten wie umstrittensten Themen auf der aktuellen politischen Agenda gehört: der wachsende Mangel an preisgünstigem urbanem Wohnraum und die Verdrängung von Teilen der Bevölkerung aus ihren Quartieren. Zahlungskräftige Mieterschaft erwünscht Um die Jahrtausendwende entstand aus dem Aktionsprogramm "Stadtentwicklung Basel" – die Abteilung für Kantons- und Stadtentwicklung existierte damals noch nicht – das staatlich finanziell angeschobene Neubau-Programm ("5'000 neue Wohnungen"), das politisch gewollt eine zahlungskräftigere Mieterschaft in den Fokus nahm. Schmerzlos ging die Umsetzung nicht. Alte Bausubstanz wurde abgerissen, viele Mietende mussten gehen. Beispielhaft für eine solche Transformation ist das ehemalige Arbeiterquartier "Volta", das heute mit seinen neuen und auch auf Expats ausgerichteten Wohnbauten nicht mehr zu erkennen ist. Der Begriff "Gentrifizierung" als Bezeichnung für Verdrängung einkommensschwacher durch wohlhabendere in städtischen Quartieren etablierte sich schleichend in den städtebaulichen Diskursen. Ein sozialer Schicht-Wechsel sozusagen. Kessler: "Kein Verdrängungsproblem" Thomas Kessler konnte sich als erster Basler Stadtentwickler mit dem Vorwurf der Gentrifizierung nie anfreunden: "Basel hat kein Verdrängungs-Problem", sagte er vor elf Jahren gegenüber OnlineReports. Was er anerkannte, waren "Verdrängungsängste". Die in Basel aufgewachsene Luisa Gehriger mit Urban Studies-Hintergrund arbeitet an der Universität Zürich im Bereich der Sozial- und Kulturgeografie, in deren Bereich die Analyse des Verhältnisses von Mensch und Raum fällt. Ihr internationaler Master führte sie zu Studien in Brüssel, Wien, Kopenhagen und Madrid. In ihrer Dissertation betreibt sie seit zwei Jahren qualitative und konkret auf Basel bezogene Wohnraum-Forschung aus der Perspektive der Mietenden und ihrer Wahrnehmung der Verdrängung. Am 28. November stimmt Basel-Stadt über die Initiative "für echten Wohnschutz" ab, die eine weitere Verschärfung des Wohnraumfördergesetzes verlangt. Eine der zentralen Forderungen ist die Einführung einer Bewilligungspflicht und Mietzinskontrolle bei Umbauten und Sanierungen. OnlineReports unterhielt sich mit der Forscherin über die Systeme, die Wohnungsbau und Mieten-Explosion überhaupt zum Sprengstoff-Thema machten. Folge von Quartier-Aufwertungen Angesprochen auf die damalige Kessler-Zitat sagt die Parteilose, die Aussage zeige, dass die politische Verdrängungsdebatte "noch in den Kinderschuhen steckt", obschon Verdrängung "kein neues Phänomen" sei, sondern die politisch in Kauf genommene Folge einer Politik der Quartier-Aufwertung. Von offizieller Seite sei der Gentrifizierung in der Schweiz "oftmals zu wenig Beachtung geschenkt" worden. "Heute muss ich gerade mit Blick auf Basel sagen, dieses Problem existiert definitiv." Allerdings, räumt sie ein, sei die wissenschaftliche Grundlage zum Verdrängungsprozess in der Schweiz im internationalen Vergleich noch "relativ schmal". Die 32-jährige Doktorandin unterscheidet zwischen der direkten und der indirekten Art der Gentrifizierung. Die eine besteht in der physischen Verdrängung aus dem Zuhause und dem Verlust des Unterstützungs-Netzwerks in der gewohnten Umgebung. Die andere darin, dass die Mietenden aus Gründen des sozialen Umfelds bleiben wollen, aber als Folge von Gesamtsanierungen oder Umbauten weit höhere Mieten in Kauf nehmen. Wenn der Mietzins aber mehr als ein Drittel des Einkommens schluckt, können extreme Sparsamkeit oder letztlich die Verschuldung die Folgen sein. Besonders betroffen von solchen Entwicklungen seien Leute mit geringen finanziellen Ressourcen, bei angespanntem Wohnungsmarkt, wie er in Basel herrscht, immer mehr auch der Mittelstand. Wer bezahlbaren Wohnraum vernichtet Hintergrund dieser Entwicklung sind politische und ökonomische Prozesse, die sich in urbanen Zentren besonders akzentuiert zeigen. "Wahnsinnig viel Kapital vor allem von institutionellen Anlegern wie Pensionskassen, Banken oder Immobilienfonds sucht Anlagen. Und da zählen Immobilien in den Städten zu den Investitionen mit sicheren Renditen." Während jedoch die Zahl solcher "finanzialisierten Akteure" weiter zunimmt, nimmt in Basel-Stadt die Zahl der privaten Hauseigentümer laut Gehriger ab. Im dynamisierten Basler Wohnungsmarkt seien Neubauten mittlerweile "oft teurer als in Zürich". Für "durchaus berechtigt" hält sie die Aussage, "dass die Zunahme der institutionellen Akteure zu einer Vernichtung von bezahlbarem Wohnraum führt". Wenn sich institutionelle Anbieter einmal etabliert haben, werde es "schwierig, andere Eigentums-Modelle zu etablieren". Erneuerung an sich, sagt Luisa Gehriger, "ist nicht grundsätzlich schlecht, aber es kommt drauf an, für wen und zu welchen Konditionen gebaut wird". Spekulation treibe die Bodenpreise tendenziell in die Höhe. Die Auswirkungen dieser Entwicklung, die nur relativ geringen politischen Handlungs-Spielraum zulässt und weitgehend dem privaten Markt überlassen ist, lasten am stärksten auf den Schwächsten der Gesellschaft. Grundvoraussetzung für eigenständiges Leben Aufgrund ihrer Recherchen bei Betroffenen in Basel sagt Luisa Gehriger: "Das sind ganz reale, gravierende Probleme" – sowohl für die Betroffenen selbst, aber ebenso in einem kaum wahrgenommenem Mass auch für Politik und Gesellschaft. Was die Verdrängung für die Gekündigten bedeutet, zeigt sich an Massenkündigungen wie jener in den Schorenweg-Hochhäusern. Weniger betroffen seien agile Personen im mittleren Alter, die auch im angespannten Wohnungsmarkt bereit seien, höhere Mieten in Kauf zu nehmen. Unter einkommensschwächeren Mietenden sei die Kündigung "der Punkt, wo die Leute ins Schleudern kommen". Dann wären sie auf Hilfe angewiesen, "die sie aber oftmals nicht haben", sagt Luisa Gehriger. Sie erwähnt dabei eine Konsequenz, die sowohl im öffentlichen Bewusstsein wie in der politischen Debatte ein Schattendasein führt: Wenn die Mieten zu teuer werden, kommt der Staat nach einer Wohnungskündigung oft mit Ergänzungsleistungen, Familienbeiträgen oder Sozialhilfe ins Spiel. Denn: "Eine gesicherte bezahlbare Wohnsituation ist eine Grundvoraussetzung für ein eigenständiges Leben." Das ist Staatsgeld à-fonds-perdu "Solche Subjekthilfe ist Staatsgeld à-fonds-perdu", gibt die Sozialwissenschafterin zu bedenken. Dabei wäre nach ihrer Meinung "gesichertes bezahlbares Wohnen die beste Armuts-Prävention und das Fundament einer gesunden Gesellschaft". Mit anderen Worten: Der Staat, der die Verdrängung von Mieterinnen und Mietern zulässt, finanziert hinterher ihre sozialen Folgen. Deshalb plädiert Luisa Gehriger "ganz klar für objektbasierte Finanzhilfe". Damit meint sie Investitionen in die langsame, stückweise und sozialverträgliche Sanierung der Altbau-Substanz, der sie eine "wichtige soziale Ressource" zuschreibt. Darüber hinaus sollte der Staat eine aktivere sozialere Bodenpolitik betreiben und den genossenschaftlichen Wohnungsbau weiter fördern. Gehriger schränkt allerdings ein, es sei für Genossenschaften ohne starke Partnerschaft mit der öffentlichen Hand "keineswegs einfach, sich in einem angespannten Wohnungsmarkt zu positionieren". Die Rückbau-Forderungen von damals Allmählich ist doch ein Sinneswandel feststellbar. Noch 2007 schlugen die Basler LDP-Wohnbau-Experten Max Hofer, Peter Zinkernagel vor, "gewisse Geviert oder Strassenzüge zurückzubauen und neu zu definieren". Heute würden solche Forderungen einen Sturm der Entrüstung auslösen. SP-Grossrat Ivo Balmer spricht, bezogen auf Basel, von einem "durchgeknallten Immobilienmarkt". Ob aber die gegenüber der aktuell beschlossenen Regelung verschärfte Initiative "für echten Wohnschutz", wie die meisten vorangehenden Mieterschutz-Initiativen das Volks-Mehr schafft, ist offen. Für Luisa Gehriger ist klar: "Ich glaube nicht, dass es der Markt allein richtet." Mehr über den Autor erfahren
12. November 2021
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"Lösung liegt im verdichteten Neubau"
Die "reine Wahrheit" gibt es hier nicht. Es liegt doch auf der Hand, dass auch Häuser mit ihren Wohnungen "alt" und renovierungsbedürftig werden, auch nicht mehr zeitgemäss sind. Anderseits steigt der Druck auf billigen Wohnraum besonders in urbanen Zentren (Besser verständlich mit der Bezeichnung: "Städten"!) deutlich seit Jahren.
Warum steigt diese Nachfrage? Aus meiner Sicht gibt es zwei gute, aktuelle Gründe; und einen, der bald noch dazukommt.
Infolge von Einwanderung steigt die Bevölkerung besonders stark durch eher wenig oder unserer Gesellschaft nicht angepasste Menschen. Diese sind auf billigen Wohnraum angewiesen, und zwar dort, wo sie eine Chance haben, Arbeit in der Nähe zu finden. (Interessanterweise stellen die Wohnraum-Initianten stets eine Verbindung von "Expats" mit "luxuriösem Wohnraum" her – dabei ist es mehrheitlich umgekehrt; die meisten Expats sind arm!)
Infolge der Überalterung der Bevölkerung ändern sich zunehmend die Bedürfnisse. In den Städten hat man noch eine Chance, eine der Infrastrukturen zu Fuss oder mit dem öV zu erreichen, die man zum Leben braucht. Auf dem sogenannten "Land" gibt es kaum mehr Einkaufsmöglichkeiten, Apotheken, Restaurants oder eine Post (etc.); Ärzte und Zahnärzte, geschweige denn ein Spital, sind rar. Unter diesem Gesichtspunkt konzentriert sich die Nachfrage nach "billigem Wohnraum" auch in den Städten; nicht in der Agglomeration, sondern in den Zentren, wo oft noch alte, renovierungsbedürftige Häuser stehen.
Aber: Gerade alter, billiger Wohnraum ist für Alte selten geeignet: Zu eng für Rollator, wenn überhaupt zugänglich; Badezimmer nur für fitte Turner; zu kalt für den erhöhten Bedarf an Wärme.
In naher Zukunft könnte sich das noch mehr zuspitzen: Energie (Treibstoff) wird viel teurer, auch infolge der zu erwartenden Einschränkungen zugunsten der Verminderung des CO2-Ausstosses; das wird die Nachfrage nach billigen Wohnungen in Gebieten (Städten, aber auch Quartieren) verstärken, die näher am Arbeitsplatz und lebenswichtigen Infrastrukturen liegen.
Die langfristige Lösung liegt im verdichteten Neubau, der den zu erwartenden, künftigen Bedürfnissen Rechnung trägt. Wie falsch das heute noch gedacht wird, erkennt man am Angebot von Alterswohnungen, die oft "weg vom Schuss" liegen und dennoch ziemlich teuer sind. Dass "Neubau" und "Sanierung" stets so teuer werden, hat nicht zuletzt mit den gesetzlichen Vorgaben und der staatlichen Bürokratie zu tun; zumal wenn sie zu (jahrelanger) Verzögerung führen.
Peter Waldner, Basel
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