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"Eine gewisse Verunsicherung": Oft zu viele Medikamente
Wenn sich in Küchenschränken die Pillen-Packungen stapeln
Chronisch kranke und ältere Personen nehmen oft zu viele verschiedene Medikamente ein: Weniger wäre mehr
Von Nathalie Zeindler
Nicht wenige Menschen nehmen gleichzeitig über zehn Medikamente pro Tag zu sich. Doch je höher die Anzahl, desto grösser das Problem möglicher Nebenwirkungen. Dabei wären laut einer neuen Studie oft schon geringere Dosierungen ausreichend. Hausärzte stimmen diesem Befund zu.
Von Polypharmazie sprechen Fachleute, wenn ein Patient mehr als vier Medikamente gleichzeitig einnimmt: In zahlreichen Haushalten stapeln sich Blutdruck-, Schlafmittel-, Herz/Kreislauf- oder Cholesterinpräparate auf dem Tisch oder in Schränken. Doch harmlos ist Polypharmazie nicht: Die Medikamente verursachen auch Wechselwirkungen und führen zu einem erhöhten Sterberisiko.
Diese Tatsache hat das Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich unlängst veranlasst, in einer durch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften finanzierten Studie zu untersuchen, ob ein planmässiges Weglassen verschiedener Arzneien bei Hausarzt-Patienten im Bereich des Möglichen liege.
Jedes zwölfte Medikament überflüssig
Die Verantwortlichen der Pilotstudie haben bei 14 Hausärzten und 63 Patienten mit über 500 verschriebenen Medikamenten die damit verbundene Zweckmässigkeit genauer untersucht. Dabei zeigte sich, dass in drei Vierteln aller Fälle der Entscheid des Patienten, ob ein Medikament gewechselt oder gar abgesetzt werden soll, mit der Empfehlung des Arztes übereinstimmt.
Bei jeder zwölften Arznei fehlt die medizinische Notwendigkeit für dessen Einsatz, und damit wurde diese als überflüssig betrachtet. Die Analysen brachten auch an den Tag, dass jedes elfte Medikament nach gemeinsamer Entscheidungsfindung mit dem Patienten abgesetzt werden konnte.
Regelmässige Medikamenten-Überprüfung
Christian Gürtler (Bild), Facharzt für Allgemeinmedizin in Gelterkinden, erstaunt dieses Ergebnis nicht und er fügt an: "Wichtig ist, Medikamente in regelmässigen Abständen zu überprüfen und immer wieder zu hinterfragen, ob der Patient tatsächlich sämtliche Präparate benötigt. Je älter die Person, desto weniger sinnvoll dürfte es sein, beispielsweise Cholesterinsenker, die erhebliche Nebenwirkungen hervorrufen können, zu verschreiben." Ausserdem sei der Nutzen besagter Medikamente bei über 80-jährigen Personen "fragwürdig, da dazu auch wenig Daten existieren".
Der Hausarzt betreut täglich zwischen 20 und 30 Patienten, darunter ein Viertel mit unterschiedlichen Krankheitsbildern. Diese Gruppe benütigt ausführlichere Gespräche. Wie lange diese Konsultationen ausfallen, hängt letztlich auch vom Kommunikationsstil zwischen Arzt und Patient ab. Laut der Pilotstudie sollte eine Viertelstunde für eine Entscheidungsfindung in Bezug auf die weitere Behandlung genügen.
Hilfe bei Einnahme von Medikamenten
Auch Christoph Hollenstein Sarbach, Facharzt für Allgemeinmedizin in Laufen und Interims-Präsident der "Vereinigung der Hausärztinnen und Hausärzte beider Basel", setzt sich für mehr Aufmerksamkeit bei der Erstellung und regelmässigen Überprüfung der Medikamenten-Listen für Patienten ein, die mehrere verschiedene Präparate anwenden müssen. Seine Praxis bietet eine kostengünstige Medikamenten-Vorbereitung pro zwei Wochen an.
Der Allgemeinmediziner befürwortet auch Dosiersysteme, damit der Medikationsplan exakt eingehalten werden kann. Dadurch soll auch verhindert werden, dass Patienten Arzneien falsch oder unvollständig einnehmen. Wer viele und zusätzlich noch selbstverordnete Tabletten zu sich nimmt, lebt nicht selten gefährlich, so dass es auch für geschulte ärztliche Augen schwierig sein dürfte, den Überblick zu behalten.
Insbesondere Personen mit Demenz neigen dazu, Medikamente falsch zu lagern oder zu verwechseln. In unserem Nachbarland Deutschland hat seit Oktober jeder Patient, der dauerhaft drei oder mehr Medikamente schlucken muss, Anspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan. Er enthält eine gedruckte Auflistung aller Mittel samt Wirkstoffen und Einnahmeanweisungen. Dieses Vorgehen kann sowohl als Gewinn für den zuständigen Hausarzt, der sich somit besser absichern kann, als auch für den Ratsuchenden betrachtet werden.
Welches Medikament weglassen?
Schwieriger sei es allerdings herauszufinden, welche Arzneien von er Einnahme-Liste gestrichen werden könnten, betont Christoph Hollenstein Sarbach: "Wenn ich Aspirin weglasse und ein Patient im nächsten Jahr einen Herzinfarkt erleidet, lässt sich nicht beweisen, ob er diesen im selben Ausmass bei einer allfälligen Einnahme gehabt hätte."
Diese Aussage belegt, dass im Zusammenhang mit Verschreibungen eine gewisse Verunsicherung vorherrscht. Im Rahmen der Pilotstudie zeigte sich auch, dass Medikamente im Bereich von Gehirnstörungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen eher weggelassen werden dürften. "Doch handelt es sich dabei nicht um ein eindeutiges Resultat, vielmehr um einen Befund, der auch zufällig sein könnte", sagt denn auch Hausarzt Stefan Neuner-Jehle, der Leiter der Zürcher Studie.
Unbestritten ist: Ohne klare Indikation muss jedes Medikament als unnötig angesehen werden. Blutverdünner und die Gruppe der Antidiabetika sind unweigerlich mit Risiken verbunden und können unter anderem auch Unterzuckerung oder Blutungen auslösen.
Absprachen nach Spital-Entlassungen
"In diesem Zusammenhang wäre auch eine vermehrte Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Spezialisten wünschenswert", betont Christian Gürtler. Oftmals nimmt die Anzahl der Medikamente während eines Spitalaufenthalts aufgrund einer akuten Erkrankung deutlich zu. Deshalb liegt das Augenmerk auf den Spital-Entlassungen, die noch sorgfältiger vorbereitet werden sollten, indem der behandelnde Arzt kurz vor Austritt die Medikamentenlisten noch einmal überprüft und sich mit dem nachbehandelnden Hausarzt abspricht.
Die Interprofessionalität gewinnt an Bedeutung und die Schnittstellen müssen nach Ansicht der Hausärzte verbessert werden.
Christian Gürtler setzt mitunter auf die elektronische Krankengeschichte, die ermöglicht, Medikamente immer wieder ergänzend beizufügen oder wieder zu löschen.
Das systematische Weglassen gewisser Arzneien dürfte die Pharmaindustrie zwar kaum erfreuen, doch hebt diese nach Ansicht von Stefan Neuner-Jehle auch immer wieder das Wohl der Patienten hervor und nicht lediglich den wirtschaftlichen Aspekt.
Christian Gürtler sieht in dieser Hinsicht keine grösseren Schwierigkeiten: "Zwar wird dem Patienten meist suggeriert, dass er bestimmte Arzneien unbedingt einnehmen sollte, doch konzentriert sich die Industrie vorwiegend auf Präparate, die eine hohe Marge mit sich bringen wie zum Beispiel Krebsmedikamente."
Medikamenten-Packungen bleiben ungeöffnet
Laut der Studie stimmen die meisten Kunden der Empfehlung der Ärzte zu, ein bestimmtes Medikament abzusetzen. Aber immerhin wollen 25 Prozent aller Patienten an einem Präparat festhalten, obwohl der Arzt zum Verzicht rät. Anderseits sind prallvolle, mit Medikamenten gefüllte Schränke in Privathaushalten keine Seltenheit. Immerhin bringen auch manche Patienten ihre Packungen bei Nichtgebrauch wieder in die Arztpraxen oder in die Apotheken zurück.
Hausarzt Gürtler stellt ausserdem fest, dass viele Personen ihre Medikamente teilweise gar nicht einnehmen: "Wenn eine ältere Person stirbt, entdecke ich oft ungeöffnete Packungen, die zwar in der Praxis mitgenommen, aber lediglich zu Hause gelagert wurden."
Als Arzt, so Gürtler weiter, könne er jedoch kaum kontrollieren, ob der Patient seiner Einnahme-Empfehlung folgt. Es würden heutzutage aber auch vereinfachte Methoden existieren, darunter Kombinationspräparate unter anderem, was Blutdruck-Erkrankungen betrifft.
Nach der Pilotstudie folgt nun eine Wirksamkeitsstudie mit einer Befragung von 300 bis 400 Patienten. Während eines Jahres werden diese begleitet, und überdies möchten die Verantwortlichen mehr über deren Reaktionen mit oder ohne Medikamentenreduktion erfahren.
Dieser Beitrag war dank des OnlineReports-Recherchierfonds möglich.
27. Oktober 2016