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"Huere originell": Baselbieter Kulturchef Niggi Ullrich
Das Kultur-Baselbiet veranstaltet einen "Schwarzmarkt der Meinungen"
Kommenden Samstag soll eine öffentliche "Kultur-Tagsatzung" Grundlagen für die künftige Kulturförderung liefern
Von Peter Knechtli
Eine ungewöhnliche politische Meinungsbildung steht dem Baselbiet bevor: Mit einer öffentlichen "Tagsatzung" will Regierungsrat Urs Wüthrich kommenden Samstag in Liestal den Volks-Puls fühlen und Grundlagen für die künftige staatliche Kulturförderung sammeln.
Es muss für den sozialdemokratischen Kultur- und Bildungsdirektor Urs Wüthrich eine frustrierende Erfahrung gewesen sein, damals, im Herbst 2009: Die bürgerlichen Parteien – vertreten durch die wortführenden Landräte Karl Willimann und Georges Thüring (SVP) sowie Christine Mangold (FDP) – wiesen den Entwurf eines Kulturgesetzes zur Überarbeitung an die Regierung zurück.
Die Hauptgründe für die Ablehnung: Das Gesetz sei "zu stadtlastig", die traditionellen Baselbieter Kulturinstitutionen kämen "zu wenig zum Zug". Karl Willimann, Präsident der Bildungs-, Kultur- und Sportkommission, zu OnlineReports: "13 Millionen Franken fliessen jährlich in die Stadt, zwei Millionen ins Baselbiet. Das leckt keine Geiss weg."
Pulverdampf hat sich verzogen
Der damalige Freisinnige und heutige Grünliberale Hector Herzig brachte die Idee ein, vor Erlass von Gesetzesbestimmungen erst einmal ein "Kulturleitbild" zu erarbeiten – ein Argument, das den Baselbieter Kulturamts-Chef Niggi Ullrich noch heute in Rage bringt: "Es gibt bereits vier Leitbilder. Aber SVP, FDP und CVP wollten dies einfach nicht zur Kenntnis nehmen."
Hintergründige Absicht dürfte auch gewesen, dem linken Kulturdirektor einen Gesetzeserfolg vor dem Wahljahr zu vermiesen. Inzwischen ist Wüthrich mit dem zweitbesten Wahlergebnis in seinem Amt bestätigt und damit hat sich der personalpolitische Pulverdampf weitgehend verzogen.
Ullrich will keine Allerwelts-Debatte
Grund genug, dem Baselbieter Volk nun unbelastet den Puls zu fühlen – auf unkonventionelle und kreative Weise. Niggi Ullrichs Kulturabteilung scheute offensichtlich keinen Aufwand, um eine volksnahe Form der Debatte zu organisieren: Eine "Tagsatzung" nach alt-eidgenössischem Vorbild, mit "Schnitz und drunter" zum Selbstkostenpreis. 35 Personen aus dem Kulturamt und der Kulturkonferenz waren an der Vorbereitung beteiligt. Das Budget von 130'000 Franken wurde laut Ullrich aus den ordentlichen Mitteln verwendet ("Wir verzichten deshalb auf einige geplante Projekte").
Da die ursprüngliche Tagsatzung bekanntlich nicht nur dem Palaver diente, sondern auch ausschweifenden leiblichen Genüssen, sind an die Kultur-Tagsatzung in Liestal nicht nur gewöhnliche Bürger und Bürgerinnen, und Kulturengagierte eingeladen und aufgerufen, sondern auch "Exhibitionistinnen" und "Provokateure". Niggi Ullrich räumte gegenüber OnlineReports ein, dass die Veranstaltung einen "leichten Anstrich ironischer Grundhaltung" habe, er besteht aber auf dem "total seriösen Anspruch".
Mit dem eintägigen "Bürgerforum", wie es sie auch in Dresden, Leipzig oder Jena gab, wollen die staatlichen Kulturakteure dem in der bisherigen Debatte entstandenen Eindruck nachspüren, ob tatsächlich ein "kulturpolitisches Malaise" bestehe, ob der zuständige Regierungsrat bloss in der stillen Beamtenstube die Fäden (der Geldverteilung) zieht und ob der Baselbieter Kultur-Obolus in einem breiten Strom nach Basel fliesst. Ullrich ist auch wichtig, dass "nicht über Gott und die Welt diskutiert wird". Viel mehr soll sich die Debatte stringent an den Aufträgen der von Christine Mangold eingereichten bürgerlichen Motion von FDP, SVP und CVP orientieren.
Ein eintägiges Mammut-Programm
Was sich die Veranstalter für die "breit angelegten Auslegeordnung" ausgedacht haben, ist ein eintägiges Mammut-Programm, das um 7.30 Uhr beginnt, um 21.30 Uhr endet und geeignet ist, spätabends einige rauchende Köpfe verursacht zu haben: Nicht weniger als 61 Foren an vier öffentlichen Schauplätzen – im Hotel "Engel", im Museum.BL, in der Kulturscheune und in der Kunsthalle Palazzo – sollen Stimmen und Stimmungen dokumentieren, die schon bis im Herbst in ein vom Landrat gefordertes aktuelles Leitbild münden sollen. Da wimmelt es nur so von "Foren", "Runden Tischen", "Talks", "Statements" und "Stammtischen" ("Schützenstube", "Alte Braue", "Bären").
Es ist also wichtig, sich im Voraus einen Überblick über diesen "Schwarzmarkt der Meinungen" (Ullrich) zu verschaffen und sich ein individuelles Programm zusammenzustellen.
"Zwei Horror-Szenarien"
Die Kultur-Tagsatzung ist nicht als Parteien-Veranstaltung konzipiert. Die Parteien präsentieren einzig in der "Engel"-"Lounge", nebst kulturellen Institutionen – vom "Bird's eye"-Jazzclub bis zur Trachtenvereinigung. Radio X, art-tv.ch und "Medienfalle" leisten die Dokumentation des Anlasses, an dem unter anderem aktuelle Statements in die Debatten eingespielt werden.
"Ja, ich bin gespannt, ob das Projekt funktioniert", sagt Ullrich, "und ob das Malaise-Kredo aus dem Landrat sich einlöst". Intern, so der Kultur-Chef weiter, kursieren "zwei Horror-Szenarien": Dass niemand erscheint und die Gruppe der Veranstalter und Moderatoren unter sich bleibt, oder dass 500 Personen die Formate stürmen.
Etwas unglücklich ist die Terminkollision mit der SP-Delegiertenversammlung. Die CVP, die sich anfänglich vor einer Teilnahme zierte, scheint nach neusten Informationen offiziell doch anwesend zu sein. Dagegen wird die FDP-Motionärin und kritische Wortführerin Christine Mangold dem Anlass fern bleiben.
Kontroverse um Abgrenzung
Aus SP-Kreisen sind konzeptionelle Vorbehalte zu hören. Die "Tagsatzung" sei "zu stark auf Stadt/Land-Schiene ausgelegt" und gehe "zu sehr der ausgrenzenden Vorgabe nach der spezifisch ländlichen Kultur nach, statt Kultur als globalen Kommunikations-Zusammenhang zu begreifen". Ullrich widerspricht: "Eine Abgrenzung zur Stadt wollen wir nicht."
Die SVP hingegen wird offiziell in der Person des Laufentaler Landrates Georges Thüring, einem in der Jodler- und Trachtenszene stark verwurzelten Vertreter der typischen Landkultur repräsentiert sein. SVP-Kulturpolitiker Karl Willimann, der am Samstagmorgen während zwei Stunden ebenfalls Präsenz markieren wird, scheint die SP-Bedenken nicht zu teilen. Die Idee einer "Tagsatzung", sagte er zu OnlineReports, finde er "huere guet".
Programm und Unterlagen: Online-Link
2. Mai 2011
"Eine wirklich subversive Initiative"
Sollte sich diese Art von öffentlichem Palaver, entgegen allen Unkenrufen, bewähren, könnten wir das Instrument «Tagsatzung» sofort auch bei den gröberen Problemen in der Gesundheitspolitik, im Strassenbau und bei Militärfragen einsetzen. Stellen Sie sich vor wir lösen die BL-Spital-Debatte mit einer Gesundheits-"Tagsatzung" und dies mit einem schlappen Einsatz von 130'000 Franken. Da könnten wir uns zukünftig das Baselbieter Parlament sparen. Ist doch super! Eine wirklich subversive Initiative von Regierungsrat Urs Wüthrich & Co.
Christoph Meury, Birsfelden
"Angenehm subversive Initiative"
Endlich eine proaktive und – angesichts der leidigen, spiessigen und eher unwürdigen Theaterdebatte – mutige und zugegebenermassen angenehm subversive Initiative, der ich viel Erfolg und Unterstützung wünsche!
Thomas Brogli, Liestal