© Screenshot by OnlineReports.ch
"Reine Vergeltungsmassnahme": Anonyme Blog-Angriffe
Fall "Lehrer H.": Eine Lektion an Frau Oberstaatsanwältin
Basler Appellationsgericht zerpflückt die Versenkung von Strafanzeigen, die Ermittlerin Eichenberger und Richter Hagemann eingereicht haben
Von Peter Knechtli
"Lehrer H." ist das seit Jahren wohl bekannteste Pseudonym in der Nordwestschweiz. Es steht für eine unglaubliche Fülle von anonymen Angriffen im Internet gegen Lehrpersonen, Bildungspolitiker und Exponenten der Basler Justiz. Endlos ist die Liste der Personen, die "Lehrer H." in sein verstecktes Visier nahm und sie teilweise mit Strafanzeigen eindeckte, nachdem er seine Stelle als Lehrer an einer Basler Schule verloren hatte.
Der anonym auftretende ehemalige Lehrmeister war am 6. Februar 2015 vom Basler Strafgericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Appellationsgericht reduzierte die Strafe und sprach sie bedingt aus, was der Angeklagte vor Bundesgericht anfocht. Dort ist der Fall hängig und somit noch nicht rechtskräftig.
Weil auch der erstinstanzliche Strafgerichts-Präsident Lucius Hagemann und insbesondere seit Jahren die mit dem Fall betraute Staatsanwältin Eva Eichenberger durch den Angeklagten in Online-Foren und "sozialen Medien" während Jahren brachial angegriffen wurden, reichten sie zwischen 10. März 2015 und Ende 2016 insgesamt zwölf Strafanzeigen unter anderem wegen Verleumdung und falscher Anschuldigung ein.
Mit der verbalen Stalin-Orgel hatte "Lehrer H." der Anklägerin unter anderem systematischen Amtsmissbrauch, organisierte Kriminalität, systematische Vertuschung strafbarer Handlungen, die Verwendung von Nazi- und Stasi-Methoden vorgeworfen. Sie sei eine systematische Lügnerin, Satanistin und eine Gefahr für den Rechtsstaat. Auch Richter Hagemann bezichtigte er des Amtsmissbrauchs und bezeichnete ihn als kriminell, willkürlich und nationalsozialistisch. Auch der Verurteilte ging in die Offensive und reichte gegen Staatsanwältin und Strafgerichtspräsident Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs ein.
"Die juristische Würdigung ist Sache
des Gerichts, nicht der Staatsanwältin."
Um keine Vorwürfe der Befangenheit entstehen zu lassen, beauftragte die Basler Regierung im Mai 2016 die Obwaldner Oberstaatsanwältin Esther Omlin mit der Bearbeitung der beiden Fälle. Sie kam mit Verfügung vom 10. Februar dieses Jahres – ausgerechnet wenige Tage vor dem Berufungsprozess – zum Schluss, dass die Strafanzeigen von "Lehrer H." zuzulassen seien, nicht aber jene der Staatsanwältin und des Gerichtspräsidenten gegen den anonymen Verleumder: Auf deren Anzeigen ging Omlin nicht ein, weil nicht ganz klar sei, was an den Äusserungen von "Lehrer H." ehrverletzend und bewiesen sei und was nicht.
Der ex-Lehrer hätte wegen gütiger Unterstützung der Oberstaatsanwältin triumphieren können. Doch Eichenberger und Hagemann wehrten sich gegen das Ansinnen aus Obwalden, ihre Strafanzeigen im Sande verlaufen zu lassen. Das Appellationsgericht unter dem Vorsitz von Christian Hoenen hiess nun ihre Beschwerden in den zentralen Punkten gut: Es hob Omlins "ausgesprochen knappe" Einstellungs-Verfügung auf und wies die ausserordentliche Ermittlerin in seltener Deutlichkeit an, die Untersuchung gegen "Lehrer H." weiterzuführen und ihn anzuklagen.
Der 14-seitige Appellationsgerichts-Entscheid, in den OnlineReports Einsicht nehmen konnte, ist kein Ruhmesblatt für die Obwaldner Oberstaatsanwältin. Ihre Argumentation wird in der Entscheidbegründung einmal als "vollkommen unverständlich", ein andermal als "unrichtig" oder "geradezu absurd" bezeichnet. Die Hängigkeit von "Lehrer H.s" Strafanzeigen spiele für eine bestimmte juristische Frage "nicht die geringste Rolle". Aus der angefochtenen Verfügung gehe nicht einmal klar hervor, "ob ein Strafverfahren nicht an die Hand genommen oder das Verfahren eingestellt worden ist".
Im Kern aber stellt das Appellationsgericht "einen massiven Verstoss" der Oberstaatsanwältin gegen den Anklage-Grundsatz "in dubio pro duriore" ("im Zweifel zugunsten des Härteren") fest. Danach darf eine Strafuntersuchung nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen eingestellt oder nicht anhand genommen werden. Hingegen sei Anklage zu erheben, "wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch". Die juristische Würdigung sei nicht Sache der Staatsanwaltschaft, sondern jene des Gerichts.
"Die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung
erscheint weit grösser als die eines Freispruchs."
Für das Appellationsgericht, so heisst es im Entscheid, erscheine vorliegend "die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung im Fall einer Anklageerhebung weit grösser als die eines Freispruchs", da sich die zahlreichen Denunzierungen im Internet als "systematisches Gesamtkonstrukt" und "regelrechte Verleumdungskampagne" präsentierten. Mit einem "enormen Pensum an Zeit und Arbeit" und der Verlinkung seiner Beiträge und Blogs habe "Lehrer H." eine "maximale Flächendeckung" angestrebt, um "seine Gegner durch die Verunglimpfungen in die Knie zu zwingen".
Laut Entscheid des höchsten Basler Gerichts bestehen "klare Hinweise" darauf, dass die Strafanzeige des anonymen Bloggers "eine reine Vergeltungsmassnahme für durchaus rechtmässige Amtshandlungen darstellt und somit wider besseres Wissen erfolgt ist". Damit sei "die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Beschwerdegegners wegen falscher Anschuldigung grösser als die eines Freispruchs", so dass Staatsanwältin Omlin "hätte dementsprechend Anklage erheben müssen".
Die frappierend unterschiedlichen Auffassungen darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Strafuntersuchung in Gang gesetzt und Anklage erhoben werden muss, lässt die Frage aufkommen, ob Esther Omlin die Dimension des Falles "Lehrer H." realistisch einschätzt und sich hinreichend durch dessen veröffentlichte Ergüsse der "nackten Wahrheit" (so seine Einschätzung) durchgelesen und dokumentiert hat. Wenn ein Appellationsgericht in derart unmissverständlicher Sprache die Arbeit einer ausserordentlichen Staatsanwältin kritisiert, die einen notorischen Verleumder schützt und die Opfer abblitzen lassen will, dann drängen sich Fragen auf.
OnlineReports wollte von der promovierten Juristin unter anderem wissen, wie sie mit dem Appellationsgerichts-Entscheid von Mitte November umgehen werde, und ob sie ihr Mandat behalten beziehungsweise zurückgeben werde. Erster Versuch: keine Antwort. Zweiter Versuch: keine Antwort. Dritter Versuch: eine Antwort. Aber richtig klug wird der juristische Laie daraus nicht.
Sie nehme grundsätzlich "jede Anzeige an die Hand, um dann fundiert untersuchen zu können", sofern es nicht an einer Prozessvoraussetzung fehle oder ein Prozesshindernis bestehe. "Bei der Anzeige von Frau Eichenberger und Herrn Hagemann lagen zum Zeitpunkt meiner Nichtanhandnahme-Verfügung Prozesshindernisse vor, weil der Sachverhalt erst in den von mir noch zu beurteilenden Fällen geklärt wird und daher ein Strafverfahren wegen falscher Anschuldigung zu früh ist." Eine Nichtanhandnahme sei aber "nicht definitiv". Sobald das Prozesshindernis wegfalle, "wird der Fall an die Hand genommen".
"Ob es zu einer Anklage kommt,
kann derzeit nicht beurteilt werden."
In diesem Sinne werde sie, so Omlin zu OnlineReports, "die Untersuchungen weiterführen respektive an die Hand nehmen". Ob es zu einer Anklage komme, könne "derzeit nicht beurteilt werden, das hängt vom Ermittlungsergebnis ab". Und das Mandat um "Lehrer H." werde sie weiterführen, "sofern nicht mein Ausstand von einer Partei gefordert wird".
Wenn eine Oberstaatsanwältin – es könnte auch ein Oberstaatsanwalt sein – vom höchsten Basler Gericht angewiesen wird, gegen ihre eigene Beurteilung Anklage zu erheben, dann besteht ein öffentliches Interesse an der Information, wie sie sich den Fortgang des Verfahrens vorstellt. Dies nicht zuletzt angesichts der Vielzahl der von anonymen Blogs angegriffenen Personen und der Staatskosten durch Bindung massiver und damit teurer Ressourcen durch ständig neue Strafanzeigen, die "Lehrer H." einreichte – in letzter Zeit auch gegen Basler Appellationsgerichts-Präsidenten, die sich mit den Auswüchsen seiner "freien Meinungsäusserungen" zu befassen hatten.
Ein öffentliches Interesse besteht schliesslich auch daran, dass unser Rechts-System mit seinen beinahe unbegrenzten Anzeigemöglichkeiten- und Beschwerdewegen nicht durch anonym verleumdende Blogger ausgenützt – einige sagen: missbraucht – wird. "Lehrer H.", mit einem staatlich bezahlten Pflichtverteidiger ausgestattet, soll seine Meinung selbstverständlich frei äussern dürfen. Aber das verleumderische Handwerk muss ihm gelegt werden und die denunzierenden Seiten müssen vom Netz.
Einzig eine Ermittlerin erhält von "Anonymous" schmeichelhafte Noten: Esther Omlin.
19. Dezember 2017
Weiterführende Links: