Fussballerisches Aha-Erlebnis: Seppe Hügi
Als Häfelischüler durfte ich nur zusehen, während ältere Buben auf der Kandererstrasse beim Erasmusplatz Fussball spielten. Auto gab es noch nicht, denn es waren die beiden letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Mittschutten durfte ich erst als Primarschüler. Dann zogen wir um ins Neubadquartier ans Dorebächli. Auf dem schmalen Weg zwischen Bächli und den Ziegelhöfen konnte man allerdings nicht Fussball spielen. So wurde das Spielfeld auf die Strasse im Langen Loh verlegt.
Dort kickten wir Kinder auch mitten auf der Strasse, denn Verkehr gab es damals noch selten. Schon mit acht Jahren zeigte sich mein Talent, und mit neun Jahren war mein Schuss so hart und präzis, dass die Scheiben klirrten. Mein Vater verhängte darauf für mich einen zweiwöchigen Lockdown, den wir damals noch Hausarrest genannt haben.
Mein Vater war aber trotz zerbrochenen Scheiben fussballbegeistert. Und wie. So nahm er mich trotz Hausarrest am Wochenende mit zum Heimspiel seines Lieblingsvereins, dem FC Basel. Den FC Nordstern und die Old Boys erwähnte er, wenn überhaupt, allenfalls leicht abschätzig am Rande. Trotzdem sassen wir bei meinem ersten live erlebten Fussballmatch auf der OB-Schützenmatte, weil der Landhof, das FCB-Heimstadion, gerade renoviert wurde.
Wenn ich mich recht erinnere, siegte der FCB. In der Saison 1948/49 reichte es zum Vizemeister. Zwei Jahre später auf dem Landhof hatte ich dann mein fussballerisches Aha-Erlebnis: Josef "Seppe" Hügi. Mit ihm, seinem Bruder Hans und Spielertrainer René Bader wurde der FCB in der Saison 1952/53 erstmals Schweizer Meister.
"Seppes Kunst war filigraner und trickreicher
als jene von Lionel Messi."
Seit Seppe bin ich glühender FCB-Fan geblieben, auch und besonders während den Jahrzehnten im Ausland. In Lateinamerika zum Beispiel galt meine ganze Bewunderung dem argentinischen Rekordmeister River Plate von Buenos Aires, wenn man so will also auch ein wenig FCB(uenos Aires). Boca Juniors war dann für mich schon eher FC Nordstern. Argentinien ist im Übrigen nicht von ungefähr mehrmals Weltmeister geworden.
Argentiniens Fussballliga nämlich ist nach England die älteste. In Spanien wiederum wurde ich zum bekennenden FC Barcelona Anhänger, obwohl ich in Madrid lebte und arbeitete und dort nolens volens auch Fan vom Arbeiterclub Atletico Madrid wurde. Real Madrid war dann für mich wie der FC Nordstern und die Old Boys zusammen.
Mitbegründer des FCB 1899 der katalanischen Hauptstadt war übrigens Hans Max Gampner, der einst den FC Basel und den FC Zürich mitbegründen half. Für den FC Barcelona spielte Gampner, nun Joan Gampner genannt, 48 Mal zwischen 1899 und1903 und erzielte 100 Tore. Der FC Barcelona übernahm die Farben Blau-Rot des FCB 1893.
Nicht in Blau-Rot sondern in Grün traten andere FCB-Spieler das runde Leder, nämlich der FC Beijing Guoan 1951. Während meiner Pekinger Jahre verpasste ich kaum ein Heimspiel im 66'000 Zuschauer fassenden Pekinger Arbeiterstadion.
Der FCB wurde in der 2004 gegründeten Profiliga Super League 2009 Meister, 2007, 2011, 2014 und 2019 Vizemeister sowie Cupsieger 2018. Also fast so erfolgreich wie mein richtiger FCB am Rheinknie. Kein Wunder, denn der Fussball wurde – wie so vieles andere – tatsächlich in China erfunden. Bereits von 2'300 Jahren wurde im Rahmen eines militärischen Ausbildungsprogramms ein Ball aus Lederfetzen gefüllt mit Federn und Tierhaaren getreten. Vor 1'400 Jahren zu Beginn der Tang-Dynastie war Fussball Nationalsport und bereits damals mit einem mit Luft gefüllten Ball und Regeln.
Seppe Hügi blieb für mich all die Jahrzehnte über unerreicht, kurz, das Mass aller Fussballer. Sein Schuss war hart, ja härter als jener von Karli Odermatt unter Trainer Benthaus rund ein Jahrzehnt später. Seppes gelegentliches Handspiel war feiner und unsichtbarer als jenes von Diego Maradona, der "Hand Gottes".
Und Seppes Kunst am Ball war filigraner und trickreicher als jene von Lionel Messi. Mit Xherdan Shaqiri, einem andern Basler Eigengewächs, das von der Schweizer und zumal Basler Sportpresse als "Zauberzwerg" hochgejubelt wird, sollte Seppe erst gar nicht verglichen werden. Denn der Bankdrücker der deutschen, italienischen und englischen Super Leagues ist verglichen mit Seppe ein Zwerg ohne Zauber. Am und neben dem Ball.
"Tränen im Gesicht meines Vaters"
Unvergessen der 12. Oktober 1960 im St. Jakobstadion. Es waren 55’000 Zuschauer am Länderspielmatch gegen Frankreich. Unter ihnen, mein Vater und ich. Seppe Hügi schoss Tor um Tor. Die Schweiz gewann 6:2. Das war das einzige Mal als ich Tränen im Gesicht meines viel zu früh verstorbenen Vaters sah.
Jörg Kramer, Prêles
"Grossartige Kolumne"
Merci für die grossartige Kolumne mit den Erinnerungen aus aller Welt und die weiteren Seppe-Hügi-Geschichten der Leser. Ich bin noch etwas zu jung für diese Zeit des FCB. Dafür reichte es mir für die Benthaus-Aera im Joggeli (und folgende).
Erwin Schönholzer, Basel
"Seppes Leibchen an der Wäscheleine"
Ich bin zwar zwölf Jahre jünger als Peter Achten, aber als an der Sperrstrasse aufgewachsener Kleinbasler nahm mich mein Vater etwa ab 1957 auf den "Landhof" mit. Anfangs stand ich meist hinter dem Tor bei der Riehenstrasse, schaute den Männern beim Totomat ebenso interessiert zu wie Torhüter Kurt Stettler.
Absoluter Höhepunkt war für uns Junge jedoch Seppe Hügi. Wir wussten von den Erzählungen unserer Väter von der grandiosen Rolle Hügis bei der Heim-WM 1954, seinen Toren gegen Italien und Oesterreich. Vor allem aber wohnte Seppe Hügi an der östlich an den Landhof anschliessenden Peter Rot-Strasse, im Haus mit der Nummer 109. Die Terrasse seiner Wohnung schaute auf das Spielfeld. Wenn während des Vorspiels der Reservenmannschaft, welches immer um 13.15 begann, das Leibchen mit der Nummer 9 noch an der Wäscheleine auf der betreffenden Terrasse hing, ging die Nachricht herum: Oh-je, Seppe spielt nicht, ist wahrscheinlich verletzt. eine Viertelstunde später war das Trikot plötzlich weg. "Är spilt, är spilt, 's Lybli isch wäg."
Und dann kamen wir oft in den Genuss, Seppe meist in der Gegend des Anstosskreises herum traben zum sehen, er war minutenlang nicht im Spiel. Aber dann eine Szene vor dem gegnerischen Strafraum, Hügi schüttelte den Verteidiger ab und schlug mit strammen Schuss zu. Oder er wurde zwei, drei Meter vor dem Strafraum gefoult. Freistoss, der Gegner bildete eine Mauer, Seppe nahm Anlauf und zirkelte das Leder (damals war's wirklich noch ein Lederball, meist braun) gekonnt um die Mauer, und dem Torhüter blieb die Aufgabe, den Ball aus den Maschen zu holen ...
Steffi Luethi-Brüderlin, Basel
"Seppe beim Coiffeur"
Es gab in Rheingasse einen Coiffeursalon mit – ich glaube – zehn Stühlen. Der Preis des Haarschnitts war bei CHF 2.20 , was auch zu dieser Zeit sehr günstig war. Ich war an der Reihe als ein Raunen durch den Salon ging. "Sali Seppe … kumm verzell vom letschte Matsch… Dä hättsch doch in der zweite Hälfti miesse ynedue…!" Grosses Gelächter!
Da waren die Spötter aber beim "Lätzen". Seppe begann wild gestikulierend den Match und sein verpasstes Goal zu beschreiben … Ein unvergessliches Erlebnis für 2.20 Franken.
Christoph Buxtorf, Basel