© Foto by Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler
"Maschinelle Bewegung": Tinguely-Werk "Zeichnungsmaschine"
Alles, was sich bewegt, dreht, verändert, ist ein Zeugnis des Lebendigen
Die Ausstellung "Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik" im Museum Tinguely in Basel zeigt, wie Bewegung und Zeit in der Kunst Eingang gefunden haben
Von Aurel Schmidt
Alles bewegt sich, dreht sich, rollt, ist in Bewegung, hüpft, steigt auf und fällt ab, pulsiert, verändert seine Lage und sich selbst. Alles lebt. Alles, was sich bewegt, lebt. Bewegung ist Leben.
Das kann man und muss man auch von den Maschinen sagen. Auch sie leben, weil sie sich bewegen, und bewegen sich, weil sie leben. Sie brauchen dafür jemand, die sie bedient und wartet und ihnen zu ihrem Dasein Energie verabreicht. Es ist wie mit den Pflanzen, die zu ihrer Bestäubung auf die Bienen angewiesen sind.
Das ist die Theorie, die Samuel Butler, der Autor des Romans "Erewhon oder Jenseits der Berge", aufgestellt hat. Er meinte, dass Maschinen eine eigene Spezies bilden. Ist das nicht immer ein heimlicher Verdacht bei den Werken von Jean Tinguely gewesen? Aber sicher doch. Warum denn nicht?
Bewegung ist in eine Zeit gebrachte Form, Bewegung also als sichtbar gemachte Zeitordnung zu verstehen, weil jede Bewegung von A nach B ihre Zeit braucht. Das ist das zugrundeliegende Axiom. Wo die Zeit ausbleibt, die Bewegung fehlt, da tritt Stillstand ein. Genau genommen haben wir es mit zwei prinzipiellen Dispositiven zu tun: einem stationären (angehaltene Zeit) und einem mobilen (prozessuale Zeit).
"Künstler haben immer versucht,
von der Fläche in den Raum vorzudringen."
Künstler haben seit jeher versucht, das Kunstwerk von der flächigen Ausdehnung in die räumliche Dimension zu transponieren. Reliefs, mit Kapitellen verzierte Tempelsäulen, Skulpturen sind entstanden. Tinguely ist noch weiter gegangen und hat die Bewegung in das Kunstwerk eingeführt, also die Zeit als vierte Dimension. Alles soll rotieren, zirkulieren, leben ... (siehe oben).
Seit etwa vierzig Jahren verlagern sich die künstlerischen Impulse und Akzente immer deutlicher in diese Richtung. Anders ist Ausmass und Bedeutung der Performance, des Tanzes, des Films (als Bildfolge und bewegte Bilder) sowie besonders der Videoarbeiten (mit ihrem handschriftlichen Charakter) im Kontext nicht zu erklären, ebenso wenig wie gewisse Entwicklungen bei den Nouveaux Realistes, die zum Beispiel Schimmelprozesse, mit anderen Worten Zeit- und Veränderungs- beziehungsweise Bewegungsabläufe in die Kunst integrierten oder diese Zeitphänomene zu Kunstwerken deklarierten.
In allerneuester Zeit hat sich die Medienkunst angeschlossen. Die Aufeinanderfolge von Nullen und Einsern, allerdings mit Lichtgeschwindigkeit, ist nichts anderes als ein solcher Vorgang und ein solches Zeitereignis. Heute bezieht die Informationstechnologie die Wetware in ihre Applikationen mit ein, und Hardware (Maschine), Software (Programme) und Wetware (Biologie) werden zu neuen Einheiten gekoppelt. Die Entwicklung hat erst begonnen.
Zugleich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das materielle Substrat des Kunstwerks zerfällt. Staub zu Staub, der Weg alles Vergänglichen. Restauratoren machen nichts anderes, als die Zeit eines Werk wiederherstellen. Fotos vergilben. Auch die digitalen Daten lösen sich auf oder werden gelöscht. Digital doomsday, Ende der Zeit, der Bewegung, des Lebens, der Potenzialitäten.
"Es ist nicht einfach zu verstehen,
dass Kunst, Maschine und Bewegung
zueinander gehören."
Das alles ist menschlich, und wir erkennen vielleicht, wie sehr das Menschliche und das Maschinelle einander entsprechen, mehr, als man denken würde. Die Maschinen gleichen dem menschlichen Leben und unterliegen vergleichbaren Bewegungen und Zeitveränderungen. "I want to be a machine", sagte Andy Warhol. Da haben wir es.
Vielleicht ist es nicht einfach zu verstehen, dass Kunst, Maschine und Bewegung einheitlich zueinander gehören. Sie sind kein Kinderspiel, sondern ein integrierter Impuls in einer umfassenden Strategie, die versucht, anders als bisher über die Welt zu denken. Oder sie ist tatsächlich ein Kinderspiel, weil es so plausibel ist. Hier liegt der Punkt, wo ein neuer Anfang erfolgt, ein Frühlingserwachen stattfindet, an dem verstehend teilgenommen werden kann.
Die Bewegung in der Kunst hat mit Versuchen begonnen, eine flächige oder, um Marcel Duchamp zu paraphrasieren, eine "retinale" Wiedergabe zu finden: bei Jules-Etienne Marey, Eadweard Muybridge, Robert Delaunay, der in "Homage to Blériot" (1914) eine Flugbewegung wiedergeben wollte, oder beim Meister selbst, Marcel Duchamp, und seinem Klassiker "Nu descendant un escalier No 2" von 1912. Heute ist es übrigens eine Kleinigkeit, davon eine virtuelle Ausführung herzustellen.
Die optische und realisierte Bewegung in der Kunst begann mit den abstrakten und Experimentalfilmen in den zwanziger Jahren: mit Hans Richter, dem "Ballet mécanique" (1924) von Fernand Léger/Dudley Murphy mit der genialen Musik von George Antheil sowie anderen, die die veränderten Anordnungen von geometrischen Formen oder einfach eine Abfolge von formalen und willkürlichen Bewegungseinsätzen mit filmischen Mitteln in der Art von Animationsfilmen aufnahmen.
Das ist die Ausgangslage der neuen Ausstellung "Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik" im Museum Tinguely. Sie geht auf eine frühere mit dem gleichen Titel zurück, die vom 6. bis 30. April 1955 in der Galerie Denise René in Paris zu sehen war, in der Archäologie der Kunst eine epochale Bedeutung besitzt und im Basler Katalog dokumentiert wird.
"Im Museum wurde die Ausstellung von 1955
bei Denise René in Paris rekonstruiert."
Das Museum Tinguely hat eine so weit wie möglich gehende Rekonstruktion der Pariser Ausstellung vorgenommen und sich zur Identifikation der Werkauswahl und der Hängung auf alte Unterlagen bezogen. Ein Teil der 1955 gezeigten Objekte und Zeichnungen ist noch im Besitz der Galerie, andere Werke wurden in einer umfangreichen Aktion aufgespürt und entlehnt, so zum Beispiel die "Rotary Demisphere" (1925) von wem anders als Duchamp, die sich heute im Besitz des Museum of Modern Art befindet. Manchmal musste auch ein gleichwertiger Ersatz aushelfen. Vertreten waren 1955 in Paris neben Duchamp Yacoov Agam, Pol Buri, Alexander Calder, Robert Jacobsen, Richard Mortensen, Jesus Rafael Soto, Victor Vasarely und Jean Tinguely, der hier eine herausragende Position einnahm.
Bewegung in die Kunst einzuführen war etwas, das damals noch in den Kinderschuhen steckt und heute vielleicht nicht mehr allzu aktuell ist. Andere Techniken haben sich durchgesetzt. Aber was damals in Bewegung gesetzt wurde, bleibt als grosse Leistung erhalten. Die Zeit ist nicht stehen geblieben.
Viele Eindrücke beruhen zunächst auf optischen und Moiré- beziehungsweise "Korkenziehereffekten" (Duchamp). Kinetik (Bewegung) oder die visuelle Illusion davon kann erzeugt werden durch maschinelle Energie wie bei Tinguely oder bei dem schwingenden Draht mit dem Titel "Kinetic Construction" (1919-1920, 1985 in drei Exemplaren rekonstruiert) von Naum Gabo. Zweite Möglichkeit: durch Veränderung der Position des Betrachters vor dem Werk. Bei Sotos "Points blancs sur points noirs" von 1954 liegt über einer Ebene mit schwarzen Punkten ein davon abgehobene zweite Ebene mit weissen Punkten, so dass dass je nach Standort die weissen Punkte die schwarzen zudecken. Das Werk entzieht sich und tritt wieder, aber anders in Erscheinung. Dritte Möglichkeit: Steckbilder oder Werke, deren Teile durch Handbewegung, Verschiebung oder andere Eingriffe verändert werden, so dass unzählige Konstellationen möglich sind (zum Beispiel bei Pol Buri) und der Betrachter "zum Vollender des Werks" (Roland Wetzel) wird.
In einem zweiten Teil der Ausstellung werden Filme gezeigt, in denen die Nähe und Beziehung der optisch-geometrischen Kunst der Filmwerke aus den zwanziger Jahren mit der auf später datierten konstruktiven Kunst und den Bestrebungen der kinetischen Kunst zum Ausdruck kommt. Das ist der springende Punkt. Kinetik und Kino haben die gleiche, aus dem Griechischen kommende etymologische Wurzel. Bewegung ist in der Tat alles, was der Fall ist.
Museum Tinguely Basel: Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik. Vom 10. Februar bis 16. Mai.
9. Februar 2010