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"Schicksale schmerzen Tag und Nacht": Landschaft an der Aare
Spurlos verschwunden: Noch lebend oder schon tot?
Täglich werden in der Schweiz zehn Menschen vermisst gemeldet: Einige tauchen rasch wieder auf, einige gar nie mehr
Von Elsbeth Tobler
Sie fahren zur Arbeit oder nach Hause, sie verlassen ihre Wohnung oder gehen auf eine Studienreise - und verschwinden. Sie sind, wie kürzlich der Basler Schriftsteller Jürg Federspiel, wie vom Erdboden verschluckt. Täglich werden in der Schweiz zehn Menschen vermisst gemeldet. Manche tauchen innert Stunden wieder auf. Andere hinterlassen nicht die geringste Spur. Dahinter stehen tragische Schicksale, verzweifelte Angehörige und ein ausgeklügelter Fahndungsapparat.
Ist sie mit dem Auto verunglückt und liegt jetzt irgendwo verletzt und hilflos? Wurde sie entführt oder sogar umgebracht? Hat sie sich selbst etwas angetan? Niemand weiss es. Gewiss ist nur: Eva M. (Name geändert) ist verschwunden - am helllichten Tag. Die 49-jährige Werbefachfrau steigt nach Arbeitsschluss gegen 16 Uhr am Berner Hauptbahnhof in ihren VW Golf, um nach Hause zu fahren. Dort trifft sie aber nicht ein. Zeugen wollen die elegante Frau beim Einsteigen noch gesehen haben. Danach verliert sich ihre Spur. Kurz nach Mitternacht erstattet ihre Familie eine Vermisstenanzeige. Für ihren Mann und die beiden erwachsenen Kinder beginnt eine schwere Leidenszeit. Ihnen bleibt nur: bangen, warten und hoffen.
Die traurige Wahrheit ist oft erlösend
Montag, Anfang Januar. Einsatzleitzentrale der Berner Stadtpolizei, Stützpunkt Mitte. Ein schmuckes Altstadthaus am Waisenhausplatz. Über den Polizeinotruf geht die Meldung zu einem Verkehrsunfall ein. Später eine Anzeige wegen Betrugs. Bei Vollmond, Föhnlage und zu Wochenbeginn gibt es bis zu 400 Anrufe pro Tag, auch viele Vermisstenanzeigen. Die Stadtpolizei fahndet in der ersten Januarwoche nach zwei verschwundenen Personen. Im letzten Jahr waren es rund siebzig. Darunter auch Eva M.
Um solche Fälle kümmern sich Stefan Balsiger und sein Team. Die Angehörigen, die dem Leiter der "uniformierten Fallbearbeitung" gegenübersitzen, sind tief verzweifelt. Mit Erfahrung und psychologischem Gespür versucht Balsiger, im Gespräch mit den Betroffenen neue Erkenntnisse zu gewinnen und Vertrauen aufzubauen. "Er arbeitet behutsam und sehr genau", heisst es in seinem Umfeld. Nicht ein einziger Vermisstenfall sei in seiner Abteilung in den letzten drei Jahren ungeklärt geblieben. Mehrmals musste die Berner Stadtpolizei im vergangenen Jahr Angehörigen die traurige Nachricht überbringen, dass ein verschwundener Mensch nicht mehr am Leben sei. "Oft ist es für die Hinterbliebenen eher eine Erlösung", sagt Balsiger, "endlich zu wissen, was geschehen ist, als weiter in quälender Unsicherheit zu leben."
Bluthunde im Einsatz
In diesem Zustand der Ungewissheit lebt die Familie von Eva M. Die Ermittler finden keinen Hinweis auf familiäre oder berufliche Probleme. Es fehlen weder Kleidung noch Geld, auch ein Abschiedsbrief existiert nicht. Ihr Auto wird nicht aufgefunden. Alarmierend sind aber Evas Depressionen. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine SMS an ihren Mann. Sie wollte spätestens zum Abendessen zu Hause sein. Seitdem ist das Handy ausgeschaltet, eine Ortung ist daher nicht weiter möglich.
Kurz nach der Vermisstenanzeige beginnt eine grossangelegte Suchaktion. Tagelang durchkämmen Polizisten, Feuerwehrleute und freiwillige Helfer jeden Winkel rund um Evas Arbeits- und Wohnort. Sie fragen Freunde und Nachbarn, kontrollieren Parkhäuser, telefonieren mit Kliniken, Verkehrsbetrieben und Flughäfen. Taucher suchen die Aare und andere Gewässer ab. Ein Armee-Helikopter mit Wärmebildkamera kreist über der Gegend, in der sie häufig joggte. Bluthunde schnüffeln durch Felder. Schulter an Schulter durchforsten Beamte die nahe gelegenen Wälder. Auch die Angehörigen sind seit diesem verhängnisvollen Oktoberabend unermüdlich auf den Beinen. Mit ihrer Einwilligung wird Eva M. schliesslich öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Doch der entscheidende Hinweis bleibt vorläufig aus.
Ausreissen - wegen schlechter Schulnoten
Eva M. ist kein Einzelfall. Jeden Tag werden in der Schweiz durchschnittlich zehn Menschen vermisst gemeldet. 2005 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik landesweit 3'597 Vermisstenanzeigen, rund ein Drittel betreffen Kinder und Jugendliche. "Zum Glück kehren die meisten innert Stunden wieder von allein nach Hause zurück oder werden von der Polizei aufgegriffen", sagt Thomas Jauch, Mediensprecher der Stadtpolizei Bern. Darunter sind sogenannte Dauerausreisser, die öfter für kurze Zeit verschwinden - wegen familiärer Probleme, Liebeskummer oder der Angst, mit schlechten Schulnoten nach Hause zu gehen. Aber auch verwirrte ältere Menschen und Erwachsene, die nach einem Streit für kurze Zeit bei Freunden "untertauchen". Etwa die junge Bernerin, die im letzten Jahr verschwand, weil sie panische Angst vor der bevorstehenden Hochzeit hatte.
Die Gesuchten kommen aus allen sozialen Schichten - und es wurden in den letzten Jahren immer mehr. Experten führen dies unter anderem auf ein verändertes Anzeigeverhalten zurück. Die Menschen sind sensibilisiert und melden sich früher, wenn sie das Gefühl haben, etwas könnte nicht stimmen.
Sofortige Suchaktion nicht die Regel
Doch nicht jede Vermisstenanzeige löst eine sofortige Suchaktion aus, denn die Gefahrenabwehr ist die einzige gesetzliche Grundlage für eine Fahndung. "Unmittelbar gesucht wird in der Regel nur, wenn die vermisste Person minderjährig ist, extreme Wetterbedingungen herrschen oder wenn von einer schweren Krankheit, hohem Alter, Verwirrtheit, Unfall, Suizidabsicht oder einem Verbrechen auszugehen ist", erklärt Stefan Balsiger. Aktiv aber werde die Polizei nach jeder Meldung und ermutige als Erstes die Angehörigen, mögliche Aufenthaltsorte des Verschwundenen selbst zu eruieren. Die Aussenpatrouillen verstärken die Wachsamkeit. "Häufig ist es auch das 'Bauchgefühl' eines Beamten, das ihn nach der eingehenden Vermisstenanzeige leitet", beruhigt der Fahnder.
Erhärtet sich der Verdacht auf eine Straftat, beginnt die Detailarbeit der Kriminalisten. Jürg Stacher, Dienstleiter der Kriminalpolizei, und seine Abteilung nehmen das familiäre und berufliche Umfeld nochmals eingehend unter die Lupe. Zu den Fahndungsmassnahmen gehören nach richterlichem Beschluss auch Hausdurchsuchungen, Observationen, Handyüberwachungen, Auswertung von Computerdaten und Überwachungskameras sowie Finanzermittlungen. Falls erforderlich, wird eine Sonderkommission gebildet, bei vermissten Kindern die interkantonale kriminalpolizeiliche Arbeitsgruppe "Soko Rebecca" hinzugezogen. Immer wieder werden Zeugen befragt. Das Verschwinden könnte ja auch fingiert sein, um an eine Versicherungssumme zu gelangen. "Gegenüber der Polizei wird auch gelogen und aus Scham Wichtiges verschwiegen. Das erschwert die Ermittlungen", sagt Jürg Stacher.
30 Jahre in den Polizeiakten
Dass die Aufklärungsquote gleichwohl sehr hoch ist, hat nach Stacher mehrere Ursachen. "Viel hängt auch vom persönlichen Engagement eines Beamten ab", betont er. Wichtige Erkenntnisse bringt zudem der interkantonale und internationale Abgleich der Daten hilflos aufgegriffener Personen und unbekannter Toter mit Hilfe der forensischen Medizin. Hinweise aus der Bevölkerung oder Internetportale wie das der Elterninitiative "Vermisste Kinder" tragen ebenfalls zur Aufklärung bei. In Fällen vermisster Ausländer schalten sich Interpol und das Eidgenössische Amt für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein.
Ein Verschwundener wird 30 Jahre lang in den Polizeiakten geführt. "Wir ermitteln weiter, solange neue Anhaltspunkte eingehen", sagt Jürg Stacher. "Aber irgendwann ist alles getan, was man tun konnte. Dann hilft nur noch Kommissar Zufall." So auch bei Eva M. Ein Spaziergänger entdeckte ihre Leiche im Bremgartenwald nahe Bern. Traurige Gewissheit: Etwa fünf Wochen hatte sie schon dort gelegen. Eva M. war also bereits tot, bevor die polizeiliche Suche nach ihr begann. Die Obduktion ergibt: Suizid.
11 langzeitvermisste Kinder
Andere Schicksale bleiben wohl unaufgeklärt. Genaue Statistiken fehlen allerdings. Erfolglos blieb bisher die Suche nach 104 Personen im Kanton Zürich, nach 155 im Kanton Bern, nach 4 im Baselbiet und 9 im Kanton Basel-Stadt. Ein Grossteil davon sind Männer. Sie werden teilweise schon über 30 Jahre vermisst. Manche wurden nach der gültigen Rechtslage als "verschollen" erklärt.
Hinter dem ungeklärten Verschwinden steckt laut Experten oft ein Verbrechen, Suizid, ein Berg- oder Schiffsunglück oder eine Naturkatastrophe, bei binationalen Personen auch das Abtauchen in ihr Ursprungsland. "Es kommt jedoch selten vor, dass hierzulande eine Person von einem auf den anderen Tag Familie und Vergangenheit hinter sich lässt und irgendwo ein völlig neues Leben beginnt", sagt Thomas Jauch. Auch das Los von 11 langzeitvermissten Kindern und Jugendlichen liegt noch im Dunkeln. "Je länger ein Kind verschwunden bleibt, desto grösser ist die Befürchtung, dass es Opfer eines Kapitalverbrechens wurde", erklärt Reto Bachmann, Chef des Jugenddienstes bei der Stadtpolizei Bern. Schwierig wird es für die Schweizer Behörden auch, wenn Kinder von einem Elternteil "entzogen und vorenthalten" werden und die Spur ins Ausland führt. 2006 gab es 50 Fälle von Kindsentzug, bei denen das EDA um Hilfe gebeten wurde.
Warnung vor zu hohen Erwartungen
Eltern, die ein Kind vermissen, schöpfen aus dem österreichischen Fall von Natascha Kampusch, die sich nach achtjähriger Gefangenschaft selbst befreien konnte, wieder neue Hoffnungen. "Man muss sich aber stets bewusst sein, dass ein solch glückliches Ende ein Einzelfall ist", dämpft Jürg Stacher allzu grosse Erwartungen.
Viele Angehörige hoffen auf den absoluten Ausnahmefall. Sie lassen nichts unversucht. Die Vorstellung, was passiert sein könnte, quält die Eltern von Patrick C. (Name geändert) aus Zürich. Seit bald zwei Jahren wird ihr Sohn vermisst. Während einer Studienreise auf Malta verschwand der 23-jährige Student plötzlich nach einer Gruppenarbeit. Die Eltern beauftragen einen Privatdetektiv mit Ermittlungen. Themis Kostenas ist auf die Suche nach Vermissten im In- und Ausland spezialisiert.
Ein Roman erregt Besorgnis
Samstagnachmittag in seinem Zürcher Büro, Kreis 2. Auf den Tischen liegen Funk- und Ortungsgeräte sowie Spezialkameras zur verdeckten Observation. "Legales Equipment", wie Kostenas betont. Seine Detektei mit fünf Mitarbeitern arbeitet rund um die Uhr an einem Fall. Drei Wochen nach der Vermisstenanzeige fliegt Kostenas nach Malta. In Patricks Hotelzimmer in Valletta ist nur ein Teil seiner Kleidung zurückgeblieben. Jacke, Wanderschuhe, Wäsche sowie Pass und Portemonnaie fehlen. Besorgniserregend: Auf dem Nachttisch liegt ein Roman über das Thema "Abtauchen und Selbstmord".
Die maltesische Polizei hat kurz nach der Vermisstmeldung eine Suchaktion eingeleitet, bislang ergebnislos. Kostenas nimmt Kontakt zu den lokalen Behörden auf, um sie "zu kontrollieren und zu motivieren", denn die Eltern fürchten, dass die Ermittlungen vor Ort ganz eingestellt werden könnten. Er prüft Patricks Ferienkontakte und sichtet die Passagierlisten der Handelsschiffe. Andere Ausreisemöglichkeiten wurden bereits von der Polizei durchgegangen. "In diesem Fall können wir nichts ausschliessen", sagt Kostenas, "auch weil der Student als labil gilt." Zu einem Durchkämmen des maltesischen Archipels kommt es jedoch nicht mehr. Aus finanziellen Gründen müssen Patricks Eltern die Suche bald aufgeben. Ein gut ausgebildeter Detektiv kostet rund 1'500 Franken pro Tag, Spesen inklusive.
Hoffnung auf ein Lebenszeichen
"Weshalb?" Diese Frage stellen sich die Angehörigen Vermisster immer wieder. Weltweit setzen die Fachleute auf Prävention. Dass Geborgenheit und Vertrauen wichtige Ressourcen sind, ist unumstritten. Bei Kindern und Jugendlichen plädiert Reto Bachmann auch für eine Sensibilisierung im Umgang mit fremden Menschen. Dennoch bleibt ein Restrisiko.
Ungewisse Schicksale schmerzen die Angehörigen Tag und Nacht. Sie drohen daran zu zerbrechen. Besonders die Eltern langzeitvermisster Kinder. Die Betroffenen suchen unaufhörlich über Jahre, kontaktieren Behörden, wenden sich an Zeitungen und TV-Sender, setzen Belohnungen aus, hängen Plakate auf, holen sich Rat bei Fachleuten und Selbsthilfegruppen, befragen Wahrsager und durchforsten Internetportale. Dabei klammern sie sich an jeden Hinweis. Wenige führen zum Erfolg. Viele laufen ins Leere. Doch die Hoffnung treibt weiter. Die Hoffnung auf ein Lebenszeichen. Irgendwann.
7. März 2007
Weiterführende Links:
FAHNDUNG IM INTERNET, KOSTEN
Polizeinews: www.polizeinews.ch; Swisspolice: www.swisspolice.ch; Soko Rebecca: www.police.be.ch; Schweizerisches Rotes Kreuz: www.redcross.ch/www.icrc.org; Vermisste Kinder: www.vermisste-kinder.de. Für verschwundene Kinder (u. a.) soll in der EU bis zum Jahresende eine einheitliche Hotline eingerichtet werden: www.europa.eu.
Die Kosten übernimmt in der Regel der Staat, sofern es sich bei der Vermisstenanzeige nicht um einen üblen Scherz oder besonderen Aufwand handelt. Die sicherheitspolizeilichen Anliegen stehen im Vordergrund.
KIND: ENTZIEHEN UND VORENTHALTEN
et. Das Eidgenössische Amt für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) kümmert sich um Fälle von "Entziehen und Vorenthalten" eines Kindes, bei denen die Spur ins Ausland führt. "Dabei handelt es sich oft um Länder, mit denen keine internationalen Vereinbarungen bestehen", erklärt Lars Knuchel, Mediensprecher des EDA. Oft gehe es um binationale Partnerschaften, in denen sich ein Elternteil nicht dem Sorgerechtsentscheid beugen will und die Kinder in sein Heimatland bringt. Eine Rückführung in die Schweiz sei äusserst schwierig. Werden Minderjährige in Staaten "entführt", die das Haager Übereinkommen zu "Kindesentführung und Sorgerecht" unterzeichnet haben, schaltet sich das Bundesamt für Justiz ein.
VERSCHOLLENENERKLÄRUNG
et. Eine Verschollenenerklärung bewirkt den Erlass des Todesbeweises. Sie ist laut Zivilgesetzbuch "bei Verschwinden in hoher Todesgefahr" und "bei langer nachrichtenloser Abwesenheit" möglich. Dabei muss zusätzlich als "höchstwahrscheinlich" gelten, dass der Tod eingetreten ist. Für Angehörige, die bei Gericht ein Gesuch stellen wollen, gelten folgende Fristen: nach einjährigem Warten seit dem Zeitpunkt des Verschwindens in hoher Todesgefahr, etwa wenn der Vermisste von einer Bergtour oder Schiffsreise nicht zurückkehrt. Bei "langer nachrichtenloser Abwesenheit" sind fünf Jahre seit der letzten Nachricht abzuwarten. Eine Verschollenenerklärung löst eine Ehe auf und eröffnet den Erbgang. Meldet sich die Person später wieder, wird die Verschollenheit wieder aus dem Zivilstandsregister gelöscht. Erben und andere Bedachte müssen für den Fall der Rückkehr des Verschollenen finanzielle Sicherheit leisten.
Einer der bekanntesten Verschollenen-Fälle in der Schweiz ist das spurlose Verschwinden des Regenwaldschützers Bruno Manser auf der Insel Borneo.