Denkknechtschaft im Maschinenraum
Das Hotelzimmer unter dem Dach in Paris hatte einen kleinen Aufenthaltsraum, von dem ein Durchgang in das Schlafzimmer führte. Der Blick vom Balkon in der Mansardenschräge ging auf den Boulevard Diderot, auf dem tagsüber der Verkehr brauste und in dessen Nähe einige kleine, sympathische Restaurants lagen.
Nachdem dieser erste Satz geschrieben ist, kann der Text weitergehen, aber wie? Ich habe eine Idee, was ich sagen will, aber keinen genauen Plan, um ans Ziel zu kommen. Vieles unterscheidet sich unterwegs.
Bevor ich mich morgens auf den Weg begab, las ich eine Stunde im Hotelzimmer. Mitgenommen hatte ich den "Klimatisierten Alptraum" von Henry Miller. Keine passende Lektüre für einen Pariser Aufenthalt? Ich meine: doch. Miller schrieb das Buch, nachdem er von 1930 bis 1939 in Paris gelebt und der sich abzeichnende Zweite Weltkrieg ihn zur Rückkehr in die USA gezwungen hatte.
Die Jahre in Paris, gesteht er, waren für ihn eine Befreiung in intellektueller, künstlerischer, sexueller und jeder anderen Hinsicht gewesen. Einen Vergleich zwischen der Offenheit des Denkens und der Lebensweise in Frankreich und der Enge in den USA konnte er auf einer ausgedehnten Reise durch Amerika ziehen, und der fiel nicht zum Vorteil der USA aus.
Was Miller kritisierte, war der stumpfe Geschäftsgeist, der das Denken beherrscht. Freundliche Worte für seine Landsleute fand er keine, es waren Höhlenmenschen für ihn, aber auch Opfer von Demagogen, Presseleuten, religiösen Scharlatanen und Agitatoren. Sein offener Widerstand galt dem versteckten Wahnsinn der Normalität.
Durch das freie Fliessen- und Strömenlassen der Gedanken im Geist des Surrealismus in Verbindung mit dem östlichen Denken gelangte er zu einer Anschauungsweise, die durch ihre unbändige Fröhlichkeit, ihre Heiterkeit, ihr Lachen geprägt war. Seine Lebensfreude leitete sich ab vom Wissen, dass sie vergänglich ist. Heute würden wir sagen, dass es keinen free access dafür gibt. Ohne gewollt erbrachten Einsatz ist ein bewusst geführtes, wesentliches Leben unmöglich.
"Die Einsicht, dass es keine Alternative gibt,
macht uns mürbe und wütend."
Wenn ich das sage, fällt mir auf der Stelle Friedrich Nietzsche ein, dessen Werk ebenfalls auf der Idee der Fröhlichkeit beruht. Philosophie dachte er als "fröhliche Wissenschaft", als "Philosophie des Vormittages".
Henry Miller und Friedrich Nietzsche unter einem Dach, das ist eine überraschende Begegnung. Ganz abwegig ist der Vergleich aber keineswegs.
Das Erstaunliche dabei scheint, dass Nietzsches Einstellung genau wie später diejenige Millers auf einen Akt der Selbstbefreiung oder Selbstüberwindung zurückzuführen ist, auf einen Aufstand gegen die einengenden Verhältnisse, Denkmuster, Überlieferungen, auf die Absage an die lebensfeindliche Moral und das implantierte schlechte Gewissen. Im Sinn hatte Nietzsche den Menschen, der Ja zum Leben sagt, ein freier Geist zu werden war sein Ziel. In seiner toxischen Schrift "Zur Genealogie der Moral" hat er das Wichtigste dazu ausgeführt.
Dies alles betrifft uns heute in einem Mass, das weitergeht als alles Vorstellbare. Wir sind alles andere als frei. Die sozialen Maschinen und Netzwerke haben sich wie eine Schlinge um unseren Hals gelegt. Jetzt müssen wir sie durch permanente Benützung retten und sanktionieren. Keinen Tag können wir ohne sie leben. Weil sonst nichts, aber auch gar nichts mehr geht.
Wenn das die Fortsetzung des Diskurses sein soll, wo kommen wir am Ende dann noch hin? Alles ist offen. Mal sehen. Weiter im Text.
Wir sind nicht nur unfrei, wir sind in noch vermehrtem Mass in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten von den digitalen Maschinen, die wie Drogen ihren verheerenden Einfluss auf uns ausüben. War das gemeint? Oder liegt hier eine neue Form einer gesellschaftlichen Krankheit vor, die sich epidemisch ausgebreitet und die Welt in ein Lazarett verwandelt hat? Der Gedanke an eine Entzugsklinik wäre wohl wünschenwerter gewesen. Doch Verzicht ist ausgeschlossen. Eher sind wir stolz auf unsere Datenknechtschaft, die uns als Reiz einer modernen kommunikativen Gesellschaft vorkommt.
Das zu behaupten ist allerdings schlimmster idealistischer Plunder. Wir zappeln in den kommunikativen Netzen, und wer es bestreitet, ist ein Spielverderber. Die Einsicht, dass es keine Alternative gibt, macht uns mürbe. Und wütend, ohne Möglichkeit, die Wut auszulassen.
Je mehr wir die sozialen und elektronischen Medien bedienen, desto mehr werden wir von ihnen aufgefressen. Die Erfinder dieser menschenfressenden Ungeheuer sind gerade dabei, sich auf künstlichen off-shore-Inseln einzurichten, wo sie in rechts- und demokratiefreien Räumen die Welt zu ihrem Nutzen zurechtbiegen. An die Maschinen! An die Algorithmen! An die Arbeit! Auf, auf, Leute!
Soviel für heute. Zu Ende ist der Text noch nicht. Es gibt noch noch viel zu ergänzen, zum Beispiel über die Selbstbefreiung, über die Wiedergewinnung des Lachens, der Heiterkeit, der Fröhlichkeit, wie bei Henry Miller, siehe oben.
5. Mai 2014
"Umso drängender meldet sich der Selbsterhaltungstrieb"
Je mehr ich mir des Aufgefressenwerdens bewusst werde, umso drängender meldet sich der Selbsterhaltungstrieb. Der Entzug folgt dann fast von selbst, mit äusserst angenehmen Nebenwirkungen: solchen der Befreiung und Eröffnung neuer Räume.
So jedenfalls ergeht es mir aktuell. Danke Herr Schmidt für Ihren sehr spannenden Erlebnisbericht.
Franz August Vettiger, Basel