... Dongcheng: Globi, Tintin und Karl May
Der Pekinger Dongcheng-Distrikt liegt im Zentrum der Hauptstadt. Dort sind auch die grossen Buch-Geschäfte domiziliert. Mein Lieblings-Buchladen ist jener an der grossen Einkaufsstrasse Wangfujing. Obwohl ich mittlerweile zum vergifteten E-Buch-Leser mutiert bin, stöbere ich doch gern in den alten Papierbergen und meist komme ich nicht ohne Bücher aus dem Laden. Neulich entdeckte ich zum Beispiel in jenem Wangfujing-Bücherparadies ein Globi-Buch. Echt. Wie einst im Mai, nur eben die Verse auf der linken Seite auf Chinesisch. Herrlich.
Nach dem Rückfall in längst vergangene Papier-Bücherzeiten zurück zum E-Book. In der Untergrundbahn, im Bus, im Zug, zu Hause, im Teehaus, im Starbucks – die elektronischen Buch-Lese-Tablets verbreiten sich in China in Windeseile. In gigantischen Warenhäusern für Computer, Handys und andere elektronische Geräte ist die Auswahl überwältigend gross. Meist sind es kostengünstige chinesische Produkte. Auch iPads und AmazonKindle sind erhältlich. Original. Oder als Kopie, versteht sich. Auch Handys eignen sich als Lesegeräte. Mittlerweile sind 800 Millionen mobile Telephone in Betrieb, und laut offiziellen Angaben des Ministeriums für Informationstechnologie nutzen davon 155 Millionen Chinesinnen und Chinesen ihr Gerät zum Bücher-, Zeitschriften- oder Zeitunglesen.
Das Herunterladen von Inhalten (Neudeutsch: "Content") ist einfach und günstig. 75 Prozent aller Zeitungen haben inzwischen Online-Ausgaben und 55 Prozent verschicken SMS mit "brechenden Nachrichten" (Neudeutsch: "Breaking News"). Wer also in China etwa wissen will, woher der neueste ideologische Wind bläst, der lässt sich vom Parteiorgan "Renmin Ribao" ("Volkszeitung") per SMS auf den letzten Stand bringen.
Das Online-Geschäft ist in den letzten Jahren und Monaten derart gewachsen, dass 2009 das digitale Verlagswesen mit einem Umsatz von 75 Milliarden Yuan (11 Milliarden Franken) das traditionelle mit einem Umsatz von 60 Milliarden Yuan erstmals überholt hat. Das entspricht einem Jahreswachstum von satten vierzig Prozent. Auch wenn das digitale Business im laufenden Jahr und in der weiteren Zukunft nicht mehr derart wuchtig zulegen wird, rechnen Industriekenner dennoch mit zweistelligen Wachstumsraten im unteren Bereich. Auch nicht schlecht. Kein Wunder deshalb, dass alle Verlagshäuser auf den fahrenden Cyber-Zug aufgesprungen sind. Content ist meist zahlungspflichtig, aber billig bis spottbillig. Viele Verlage, in kritischer wirtschaftlicher Situation, erhoffen sich so digitale Rettung.
Die ganz Grossen mischen natürlich auch kräftig mit. "China Mobile" zum Beispiel, der mit Abstand grösste Mobiltelephon-Betreiber weltweit, führt ein elektronisches Buchgeschäft und bietet drahtlosen Anschluss zum Herunterladen von Büchern und Publikationen aller Art. "China Mobile", ein Staatsbetrieb, steht in harter Konkurrenz zu einer ganzen Reihe anderer E-Buch-Anbietern. Konkurrenz belebt das Geschäft eben auch in der staatskapitalistischen "Marktwirtschaft chinesischer Prägung". Der grosse Revolutionär und Reform-Übervater Deng Xiaoping hätte seine helle Freude daran gehabt.
Alles, und mithin auch Digitales, hat seine Grenzen. In den Ferien in der Schweiz oder Amerika greife ich gerne und mit Gusto zu Papier. Den Globi, Karl May, Babar, Tintin, Peanuts oder Jim Strong lasse ich mir nicht digitalisieren. Zudem: Was gibt es Schöneres als am Sonntagmorgen bei Kaffee und Gipfeli in den Papierbergen von "Washington Post", "SonntagsZeitung", "New York Times", "Sonntag" oder "NZZ am Sonntag" zu wühlen. Der Genuss ist umso grösser im Bewusstsein, dass es das in zwanzig bis dreissig Jahren nicht mehr geben wird. Wetten?
18. Oktober 2010