© Fotos by Peter Knechtli, OnlineReports.ch / DRG
Der Mann, der die 170 Millionen-Last des ASE-Anlageskandals trägtMartin Schlegel: Sein Erfolg, sein Betrug, seine Haft und sein heutiges Leben an der Armutsgrenze Von Peter Knechtli Frage an Martin Schlegel: Haben Sie je an Suizid gedacht? Prolog
Ich bin Martin Schlegel, dem einstigen Geschäftsführer der "ASE Investment AG" mit operativem Sitz in Frick, zum ersten Mal an jenem nebligen 21. November 2016 begegnet. Im eisig-kalten Neon-Licht der Halle des Zivilschutzzentrums am Rande der Fricktaler Gemeinde Eiken stand er vor dem Bezirksgericht Laufenburg.
Unter seinem Zepter waren 2'000 ASE-Investoren um einen Betrag von 170 Millionen Franken betrogen worden. Jenes Häufchen der Geprellten, das sich outen mochte, verfolgte die Dramaturgie eines der grössten Anlagebetrugsfalles der Schweiz im hinteren Teil des kahlen Raumes. Himmelblaue Kissen auf den Stühlen war das einzige Leuchtende in diesem Instruktionsraum. In diesem einwöchigen Prozess war Sitzleder gefragt. Die Blicke waren düster, die Mienen bitter.
Mitangeklagt war Simon Müller, ein Treuhänder mit eidgenössischem Fachausweis aus der Fricktaler Gemeinde Hellikon, der als Verwaltungsrats-Präsident der ASE verantwortlich zeichnete.
Während Müller eine ausgezirkelte 70-seitige Erklärung ab Manuskript vorlas, in der er jegliche Schuld von sich wies, und danach die Aussage verweigerte, war Schlegel sofort geständig. Der Ton seiner Auskünfte war sachlich, sein Auftreten vermittelte den Eindruck der Reue. Es schien, als wollte er gar nicht erst den Versuch unternehmen, sich auch nur ansatzweise reinzuwaschen. Zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Prozesses sass er schon seit viereinhalb Jahren hinter Gittern.
* * *
Fast fünf Jahre später, im Sommer 2021. Ich treffe Martin Schlegel erstmals persönlich.
In mehreren Gesprächen von gesamthaft über zehn Stunden Dauer, verteilt auf zwanzig Wochen, erzählt er auf der OnlineReports-Redaktion bereitwillig seine Geschichte. Ich nehme mir vor – und deklariere es auch zu Beginn –, keinen rechtfertigenden Text zu schreiben, der den damaligen Delinquenten quasi als Gegengeschäft fürs Auspacken als Good Guy erscheinen lässt. Schlegel ist mit dem Vorgehen vorbehaltlos einverstanden und erhebt keinerlei inhaltlichen Ansprüche. Eher ungewöhnlich für einen Verurteilten, den der Staatsanwalt elf Jahre hinter Gitter bringen wollte.
Der 55-Jährige tritt mir mit kahl geschorenem Schädel gegenüber. Entfernt erinnert seine Erscheinung an einen ebenfalls gefallenen Anleger-Guru, allerdings noch grösseren Kalibers: Dieter Behring. Die Strapazen der letzten Jahre stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Die Augenringe zeugen von ungeschlafenen Nächten. Aber er ist klar erkennbar als der Herr in sehr bunter Krawatte und dunkler Kleidung, der sich auf der ASE-Website noch 2012 als "Devisenhändler, Geschäftsführer, Partner" darstellte.
Mittelständisch als Sohn eines Programmierers bei Novartis in Muttenz aufgewachsen, schlug er nach der Wirtschafts-Matur ein Ökonomiestudium aus, weil er "auf eigenen Beinen" stehen wollte. "Ich erhielt sofort einen Job beim 'Bankverein'", einer der UBS-Vorgängerfirmen. Von der Coupon-Abteilung wechselte er in den Handel mit Edelmetallen. Kunden waren vermögende Private, industrielle Anleger oder andere Banken, auch arabische. "Schaub wollte seiner Klientel ein neues Nach einem Abstecher nach Kanada ging es in Zürich weiter, wo er verantwortlich mit Palladium und Platin handelte. 1994, Im Alter von 28 Jahren heiratete Schlegel. Der Ehe entsprangen zwei heute erwachsene Söhne. "Es war die Zeit des Rohstoff-Booms und ich hatte das Gefühl, ich könne mit meinen guten Kontakten selbstständiger Anlageberater werden. Es war aber schwieriger als gedacht."
Da kam Schlegel, der in Kanada schon mit Währungen gehandelt hatte, gerade recht. Und so kam die Connection zustande: Die damalige Freundin und heutige Ehefrau von Schlegels jüngerem Bruder ist Pierre Schaubs Tochter. Simon Müller, der einige Treuhand- und Buchhaltungs-Mandate von Schaubs Kunden wahrnahm und Schlegel zuvor nicht kannte, war der Dritte im Bunde. "In den ersten sechs Jahren machte ich Auf Schaubs Initiative und unter seinem Präsidium mit Einzelunterschrift wurde im Mai 1998 die "ASE Forex Investment AG" gegründet. "Forex" fiel später aus der Firmenbezeichnung weg. Es blieb bei ASE – als Abkürzung für "Anlage, Sicherheit Erfolg". Schlegel und Müller als Verwaltungsräte hatten neben Schaub wenig zu sagen. "Er traf am Anfang auch alle Entscheidungen, auch jene, wie hohe Provisionen er für seine Kunden beansprucht. Er suchte jemanden, der das Geschäft mit seinen Kunden ausweitet."
Im Jahr 2003 verlegte die ASE ihren Firmensitz von Möhlin in den Bezirkshautort Frick, Widenplatz 12.
Schlegel antwortet auf meine Fragen natürlich, im Ton gefasst, meist ohne nachdenkliches Kalkül. Er wirkt offen und kooperativ. Einzig wenn es um Zahlen geht, etwa um seinen Lohn, seine Gewinnbeteiligung und seine Provisionen, kommt er manchmal ins Grübeln, kann sich nicht präzise erinnern.
Als die ASE 14 Jahre nach der Gründung zusammenkrachte, blieb so gut wie nichts mehr übrig. Für die 2'000 Kunden, die vor allem aus der Schweiz und der Nordwestschweiz, aber auch aus dem Fernen Osten stammen, war es ein Ende mit Schrecken. Sie verloren teils grosse Teile ihres Vermögens oder ihre gesamte Altersvorsorge.
Die Geschichte der ASE ist eine Geschichte der Gier. Schlegel war ein Profi. Daran lag's nicht. "Ich machte in den ersten sechs Jahren netto zwischen 15 und 20 Prozent des Anlagebetrags Gewinn. Wir hatten viele Kunden, die diesen Gewinn auch jedes Jahr realisierten."
Das sprach sich herum und "weckte auch Begehrlichkeiten bei den Kunden". Die ASE wurde zur Geldmaschine, die provisionsgeile Vermittler ebenso anzog wie Investoren, die an wundersame Geldvermehrung glaubten. Zwischen 2006 und 2011 flossen der ASE Nettokundengelder in Höhe von 153 Millionen Franken zu. Dies auch noch zu einem Zeitpunkt, als die Firma schon lichterloh brannte.
"Einer von Schaubs Kunden verkaufte plötzlich alle Aktienfonds und legte sein ganzes Vermögen von einer Million und mehr in unser Produkt an. Schaub war das egal, er hatte ja seine Provision", sagt Schlegel. "Wir hatten mehrere Kunden von Schaub, die am Schluss ihr ganzes Vermögen nur noch in unserem Topf hatten." "Das Devisen-Geschäft wurde Selbstläufer Schon daran zeigt sich, wie das Geschäft aus dem Ruder lief. Denn anfänglich hätte verhindert werden müssen, dass sich bei den Kunden derartige Risiken auftürmten. "Wir hatten intern Diskussionen darüber, wieviel Geld wir von einem Kunden annehmen wollen, beispielweise nicht mehr als zehn Prozent seines Vermögens. Aber das wurde dann dennoch nicht eingehalten. Plötzlich explodierten die investierten Gelder, weil es gut lief." Auch Schlegel profitierte in Form von Provisionen, Retrozessionen und Erfolgsbeteiligungen exponentiell von der wachsenden Geldschwemme. In den besten Jahren überstieg sein Jahreseinkommen eine Million. Doch der Fiskus sah viel davon nicht: Schlegel und Müller überwiesen hohe Summen in Schweizer Franken oder US-Dollar unversteuert auf Konten in Hongkong. Dort, so der Vorwurf von Staatsanwalt Karl Knopf, habe Müller zwei Millionen Franken parkierte Retrozessionen "versteckt", die unauffindbar seien.
Bei Schlegel waren es zwischen 2007 und 2012 gut sechs Millionen Franken, resultierend aus Vermittlungs- und Bestandes-Provisionen in Höhe von 2,5 Prozent des Anlagebetrags. Diese zahlte er aber auf ein heimlich eingerichtetes kanadisches Konto in Schweizer Franken zurück, um Verlust-Löcher der Firma zu stopfen.
Doch während das Devisen-Geschäft zum "Selbstläufer" geworden und "nicht mehr zu stoppen" war, geriet Schlegel auf den Pfad der Überforderung. Anfänglich wurden die Kundengelder in einem Sammelkonto bei der Basler Kantonalbank (BKB) einbezahlt, bis die Schweizer Bankengesetzgebung dieses sogenannte Pooling zum Schutz der Anleger verbot. Müller und Schlegel mussten vor der Bankenkommission antraben, die ihnen Fristen setzte, "bis wann die Gelder vom Sammelkonto an die Investoren ausbezahlt werden mussten": am 30. Juni 2007.
Wie Klett blieb an der Basler Kantonalbank der Vorwurf haften, über ihre in Zürich domizilierte Private Banking-Filiale trotz warnender "K-Geld"-Artikel mitwissend mitgemacht, zu lange zugeschaut und zu lange profitiert zu haben. Der zuständige Kundenberater M. G. erhielt 18 Monate Gefängnis auf Bewährung. "Mit dem 'schwarzen Tag' begann für Schlegel spricht vom "schwarzen Tag" irgendwann Mitte 2007, der den unternehmerischen Genickbruch signalisierte. Um bereits vorbestehende Verluste zu kompensieren, stieg er in risikoreiche Dollar-Optionsgeschäfte ein.
Als die US-Notenbank im Vorfeld des Konkurses von Lehman Brothers einmal abends um 17 Uhr aus heiterem Himmel die Zinsen um 0,75 Prozent senkte, kein Handel mehr stattfand und der Dollar tags darauf im Keller lag, erlitt Schlegel innert Tagesfrist einen Verlust von sechs bis sieben Millionen Dollar, was 14 Prozent des Anlagevolumens entsprach. Schlegel lernte jählings die Risiken strukturierter Produkte kennen.
Am Tag danach musste er den Verlust realisieren, um noch Schlimmeres zu vermeiden. "Es war auch für mich ein Schock-Moment, weil es das in der Geschichte der Devisengeschäfte noch nie vorgekommen ist, dass kein Handel stattfindet. Mit dem 'schwarzen Tag' fing auch für mich eine schwarze Zukunft an."
Schlegel sagt heute: "Es war meine irrige Vorstellung – ich kann es heute auch nicht mehr verstehen –, dass ich glaubte, ich könne den Verlust wieder gut machen." Der Staatsanwalt habe "richtig analysiert", dass er nicht nur Kunden und Geschäftspartner ruiniert habe, "sondern auch sich selbst". Sein Anwalt sage es so: "Ein einziges Schneeballsystem mit einer nicht mehr zu stoppenden Eigendynamik."
Schlegel heute: "Ich hätte den Verlust sofort ausweisen und informieren müssen. Sauber wäre gewesen, die Kunden schon am nächsten Tag zu informieren und ihnen die Gelegenheit zu geben, das Geld zurückzuziehen, wenn sie das Vertrauen nicht mehr haben. Stattdessen brachten vor allem die 'Ficon'-Berater ständig neue Kundengelder. Niemand hätte verstanden, wenn ich gesagt hätte, wir nehmen kein Geld mehr entgegen. Ich hatte mir ja die Hände selbst gebunden, weil ich der Einzige war, der von den hohen Devisenverlusten wusste. Das war mein Fehler und der Anfang des Debakels. Ich hatte mich selbst in eine Ecke gefahren." "Ich sprang nur noch Verlusten nach und Ab diesem "schwarzen Tag" sei "alles kaputt" gewesen. "Ich sprang nur noch den Verlusten nach und hoffte auf einen Glückstreffer, mit dem ich die Verluste einholen kann." Er habe sich aber auch geschämt.
So glitt der Profi von damals in die Rolle des Verlierers – und des Betrügers. Vor den Kunden verschwieg er alles, was die Klientel hätte hellhörig machen können. Um auf ihren Franken-Konten Guthaben auszuweisen, richtete er für sie ohne ihr Wissen Kanada-Dollar-Konten (CAD) ein, die im Minus standen. Ein immenser Fälschungsaufwand an Dokumenten war nötig, um den Schlamassel zu vertuschen.
Auf eine späte Strafanzeige der BKB hin wurde die ASE im Frühjahr 2012 amtlich bevormundet und liquidiert. Erstaunlich lange hat die Basler Staatsbank, die an der Geschäftsbeziehung mit der ASE um die zwanzig Millionen Franken verdient haben soll, zugeschaut.
Schon im Juni 2010 war der damalige Kredit-Verantwortliche der Meinung, dass "aufgrund der vorhandenen Reputations-, Compliance- und Delkredererisiken auf eine Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen verzichtet werden sollte", wie aus einem internen Dokument hervorgeht. Direktionspräsident Hans Rudolf Matter, der später gehen musste, aber wartete zu. Vor Gericht sagte er aus, die BKB habe im ASE-Skandal "nur eine Nebenrolle" gespielt.
Im Geschäftsleben agierten Schlegel und Müller jahrelang kollegial zusammen. Sie unternahmen gemeinsam auch Reisen nach Asien, auf denen es nebst anderem auch im die Kundenakquisition ging. Seit der gigantische Schwindel aufflog, herrscht zwischen den Beiden Funkstille. Im Eikener Gerichtssaal fiel aus Müllers Mund an die Adresse Schlegels einmal das Wort "Arschloch".
Das Obergericht reduzierte die Strafe auf sieben Jahre. Als der Staatsanwalt dieses Strafmass vor Bundesgericht anfechten wollte, habe es "am Schluss wie zu meinem Geständnis und zu meiner Einsicht gehört", auch die zu hohe Strafe zu akzeptieren: "Ich kann mich heute nur noch schämen. Juristisch ist der Betrug gesühnt. Moralisch kann er gar nie gesühnt werden." "In Trainerhosen und in Fussfesseln Als früherer Banker hätte Schlegel das enorme Wachstum der ASE selbstbestimmt auf ein gesundes Mass regulieren können. Das machte er aber nicht. "Ich hatte den Ehrgeiz, mein Können zu beweisen. Dazu kam der Druck von Senior-Chef Schaub. Es war sicher auch auf meiner Seite Gier nach mehr vorhanden."
Kaum in Bangkok angekommen meldete sich die Staatsanwaltschaft telefonisch aus dem ASE-Büro in Frick. Die beiden Manager mussten sogleich kehrt machen. Zurück in der Schweiz war Schlegel, im Militär als Panzergrenadier ausgebildet, mit Schüttelfrösten krankgeschrieben. Nach der ersten Befragung wurde er sogleich verhaftet. Für ihn, den Profiteur seines Geschäfts, begann blitzartig ein Leben in einer ganz andern Welt. Über drei Jahre lang sass er täglich während 23 Stunden allein in Aarauer Untersuchungshaft in einer 12 Quadratmeter grossen Zelle, deren Fenster ihm einen Blick in die Freiheit ermöglichten: den "Telli"-Kreisel und den dortigen Tankstellen-Shop.
Briefe wurden überwacht und zensuriert, bei Besuchen sass ein Polizist dabei und hörte mit. Besuch erhielt er auch von seiner Ehefrau. Doch drei Jahre nach seiner Verhaftung, im Mai 2015, wurde die Ehe geschieden. "In Trainerhosen und in Fussfesseln musste ich vor den Scheidungsrichter." "Das Unschmeichelhafteste für mich In einem Brief an seine Schwiegermutter nahm er die Schuld für die "Verfehlungen" auf sich und zeigte, wie später auf vor Gericht, "aufrichtige Reue". Das Firmenkonstrukt, dessen operativer Chef er war, habe seinen Fähigkeiten und seiner persönlichen Risikobereitschaft nicht mehr entsprochen: "Rückblickend muss ich sagen, dass eine Vermögensverwaltung als 'One Man Show' in dieser Art nicht möglich ist, wenn schon das Handelsvolumen der ASE-Kunden für die BKB als Bank zeitweise nicht mehr abzuwickeln möglich war."
Aber, so sagte er später zu OnlineReports: "Das Unschmeichelhafteste für mich war mein Ehrgeiz. Ich wollte mich beweisen, dass auch dieses grosse Volumen durch eine einzelne Person zu managen war."
Mit seinem Laptop hielt er sein Haft-Domizil fotografisch fest: Pritsche mit Kautschuk-Matratze, eine festmontierte Tisch-Bank-Kombination, einige Bücher aus "der nicht so üppigen Bibliothek".
Auffallend sind Aktenstapel. In seiner "Isolationshaft" (wie er sie nennt) dokumentierte er monatelang den immensen Geldfluss-Dschungel in einem Detaillierungsgrad, wie ihn die Staatsanwaltschaft wohl nie zustande gebracht hätte. Er war in Absprache mit der Staatsanwaltschaft sozusagen der Chef-Ermittler in eigener Sache. "Es ist eben angenehm, Ein Journalist kann und soll nicht Richter spielen. Dazu sind die Gerichte da. Er kann sich aber die Frage stellen, wie ein nahezu unbescholtener Mensch dazu kommt, 170 Millionen Franken anvertraute Privatvermögen betrügerisch zu vernichten und dabei selbst Millionen zu verdienen. Ist der Betrug schon in der der DNA der Person angelegt oder macht ihn ein System-Konvolut von Gier, Wachstum und Sucht nach professioneller Anerkennung zum Kriminellen?
Ab Ende 2007, als sich der finanzielle Zustand der ASE verschlechterte, begann Schlegel mit den Mittel der verheimlichten CAD-Konten die Kunden zu täuschen. "Rückblickend muss ich sagen: Ich habe mich komplett verirrt und mich offenbar auch selbst überschätzt in der Meinung, ich könne den Verlust wieder gut machen."
Die Entscheidung, die Performance gegenüber den Investoren als zu hoch auszuweisen, sei "die verhängnisvollste gewesen", analysierten Wirtschaftsprüfer der Aargauer Staatsanwaltschaft schon ein gutes halbes Jahr nach Schlegels Verhaftung.
Auf der anderen Seite habe Schlegel aber auch die vereinbarten Management Fees von den fiktiven (zu hohen) Vermögen abbuchen müssen und auch bezogen – sei es nur unter dem Zwang, zu verhindern, dass der Schwindel andernfalls aufgeflogen wäre.
Die kritischen Jahre bis zum Zusammenbruch der ASE – von 2007 bis 2012 – waren Schlegels materiell erfolgreichsten: Er nahm, den Verkauf seiner Metallhandelsfirma eingerechnet, aus verschiedenen Quellen gegen zehn Millionen Franken ein. Sechs Millionen davon zahlte er nach eigenen Aussagen an die ASE zurück, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch den Weg aus den roten Zahlen zu schaffen. "Strafverfolger und Gefängnisse lobten Schlegel war nach der Verhaftung sofort geständig. Die Strafverfolger lobten seine Kooperation, die Gefängnisse Wauwilermoos und Bostadel, wo er die zweite Hälfte seiner Strafe verbüsste, stellten ihm tadellose Zeugnisse aus. Als symbolisches Zeichen der Wiedergutmachung spendete er aus der Haft monatlich 60 Franken an die Stiftung "Förderverein – Kinder der Zukunft".
Heute ist er ein armer Mann. Er beteuert, im Ausland keine Millionen versteckt zu haben. Was auf asiatischen Konten gelegen habe, sei an den Kanton Aargau zurückgeführt worden. Seine Wohnung in Bangkok und die drei Bungalows in Hua Hin, einem Touristenort südlich der thailändischen Hauptstadt, die "seit Jahren unbewohnt sind und himmeltraurig aussehen" (Bild), sollen verkauft werden, sofern sich ein Käufer finde. "Wenn es gut kommt, lassen sie sich für 500'000 Franken verkaufen."
Davon würde er keinen Rappen sehen. Seit der Verbüssung seiner Strafe und der vorzeitigen Haftentlassung am 19. April 2018 fristet er ein Leben am Rande des Existenzminimums. Eine kleine Ersparnis aus dem Lohn für Gefängnis-Arbeit reichte für kurze Zeit zum Überleben im Haushalt seiner Eltern.
Der Kontakt mit seiner ehemaligen Frau, die ihn auch in Bostadel gelegentlich besuchte, war vorübergehend unterbrochen. "Doch letzthin organisierten wir den Geburtstag eines Sohnes gemeinsam. Wir haben den Rank wieder gefunden. Das war sehr schön." Und dürfte auch darüber hinwegtrösten, dass sich frühere Geschäftskumpel von ihm abgewandt haben. "Aber meine besten Freunde aus der Schul- oder Jugendzeit stehen zu mir und nehmen mich so, wie ich heute bin. Dafür bin ich sehr dankbar."
In der Untersuchungshaft konfrontierten ihn betrogene Kunden mit harter Kritik. "Es war schwierig, die Briefe zu beantworten, weil alles durch die Zensur ging. Zwei oder drei Kunden gab ich eine Antwort. Ich entschuldigte mich und hoffte, mich ihnen eines Tages persönlich erklären zu können." Das gelang in wenigen Fällen. "Daran, mich optisch unidentifizierbar Noch heute erhält er gelegentlich Briefe von Kunden, die ihn um Geld bitten. Zwar werden die betrogenen Anleger "immer auf mich wütend sein. Ich würde auch keine Geschäfte machen mit jemandem, der das gemacht hat wie ich. Es wird mir aber auch nie mehr passieren."
Doch bei Martin Schlegel, der die Schuld am dreistelligen Millionen-Betrug anerkannt hat, ist nichts mehr zu holen. "Er wird zeitlebens diesen Schuldenberg vor sich herschieben", sagte sein Anwalt in der Berufungsverhandlung vor Aargauer Obergericht. Die Kunden müssten eine Privatklage anstreben und ihn betreiben. Dabei hätten sie, so Schlegel, ausser Anwaltskosten nicht viel zu erwarten: "Ich bin per Gerichtsbeschluss verpflichtet, dem Kanton Aargau zurückzuzahlen, was ich noch zu Geld machen kann."
Die BKB als Partnerbank griff tief in die Kasse, um ihre Mitschuld an der Affäre zu entschädigen. Sie zahlte im Rahmen eines aussergerichtlichen Vergleichs 50 Millionen Franken an BKB-Kunden mit Einzelkonto, also jenen mit einem Investment von über 100'000 Franken. Das sind etwa 90 Prozent der durch die ASE geschädigten BKB-Kunden. Die kleinen "Quanto"-Investoren blieben aussen vor.
Nach sechs Jahren Gefängnis beschleicht Schlegel "ein komisches Gefühl" beim Gedanken, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. "Unter anderem, weil mich jemand erkennen und auf der Strasse einen Riesenmais veranstalten könnte. Angst hätte ich nicht, auch wenn mein Gewissen nie ein gutes sein wird. Aber so, wie ich durch die letzten neun Jahre gegangen bin, kann ich wieder in den Spiegel schauen." "Ich gehe nicht einmal mehr Lachen brach aus Schlegel heraus auf die OnlineReports-Frage, ob er je den Plan gehabt habe, sich äusserlich zu verändern zu machen: "Daran habe ich nie gedacht. Ich bin der, der ich bin. Wenn jemand mit mir nichts zu tun haben will, verstehe ich das."
Martin Schlegels Zukunft ist offen. Noch warten zehn Jahre bis zu seiner Pension. Auf 30, 40 Bewerbungen erhielt er Absagen. Aber er will sich weiterhin bewerben mit seinem "Dossier, in dem meine Geschichte drinsteht. Ich mache das transparent."
Auch im Ausland hat er sich schon beworben und "zwei provisorische Zusagen" erhalten. Vielleicht käme sogar ein Arbeitsplatz in Thailand oder Hong Kong in Frage, sagt er. "Dort interessiert meine Vergangenheit niemanden. Sicherlich möchte ich nicht bis zu meiner Pensionierung Sozialhilfe beziehen."
Für sich und seine Welt, die lebenslang nicht mehr die frühere sein wird, hat Martin Schlegel – auch wenn es für die Investoren kein Trost ist – die Lehren gezogen: "Ich werde nie mehr mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Ich gehe nicht einmal mehr bei Orange über die Strasse. Ich will auch mit Geld und dieser Branche nichts mehr zu tun haben."
7. September 2021
Dank dem Recherchierfonds
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