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"Wir lernen jeden Tag wahnsinnig viel": Basler Krisenstab-Chefin Simona Dematté
Corona in Basel: "Ein Schwachpunkt ist die Abhängigkeit vom Ausland"
Simona Dematté: Die Stabschefin der kantonalen Krisenorganisation Basel-Stadt in ihrem ersten Interview zur aktuellen Corona-Krise
Von Fabian Schwarzenbach
Im Kanton Basel-Stadt führt eine Frau den Kantonalen Krisenstab: Bei Simona Dematté laufen in der aktuellen Corona-Krise die Fäden zusammen. Im OnlineReports-Interview äussert sie sich zum Mangel an Schutzmasken und Beatmungsgeräten. Sie spricht aber auch den Staatsangestellten, die sich über die Arbeitsbedungungen beschwerden, ins Gewissen. Und sie erklärt, wie sie Erholung schöpft.
OnlineReports: Frau Dematté, wann haben Sie die kantonale Krisenorganisation hochgefahren?
Simona Dematté: Am 26. Februar hatten wir die erste Sitzung im kantonalen Krisenstab. Aber wir sind immer noch im Modus, in dem wir den Fachbereich Gesundheit durch den Krisenstab unterstützen. Wir haben noch keine Situation, welche die öffentliche Verwaltung nicht bewältigen könnte.
OnlineReports: Was ist der Unterschied?
Dematté: Die normalen Strukturen und Prozesse in der Verwaltung sind angesichts der aktuellen Situation natürlich an vielen Orten eingeschränkt, funktionieren aber grundsätzlich nach wie vor.
OnlineReports: Setzen Sie nur die Beschlüsse des Bundesrates um oder besteht kantonaler Spielraum?
Dematté: Wir setzen auf jeden Fall die Beschlüsse des Bundesrates und des Regierungsrates um und versuchen gewisse Dinge im Kanton zu koordinieren, wie Personal- und Verwaltungsfragen oder Kommunikation. Dies im Bedarfsfall auch zwischen den einzelnen Departementen. Einen allfälligen materiellen kantonalen Spielraum müsste der Regierungsrat wahrnehmen, nicht der Krisenstab.
OnlineReports: Funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Departementen gut?
Dematté: Ja, grösstenteils schon ...
OnlineReports: ... grösstenteils?
Dematté: Es haben nicht alle Departemente die gleiche Erfahrung mit der Arbeit in einem Krisenstab. Jene, die bisher damit nichts zu tun hatten, finden sich aber nach und nach.
OnlineReports: Der Krisenstab schlägt Massnahmen vor – wie ungefiltert kommen sie in der Verwaltung an?
Dematté: Wir haben einen grossen Vorteil: Wir haben oft zwei Regierungsräte als Bindeglied zwischen Stab und Regierung mit dabei, Baschi Dürr und Lukas Engelberger. Mit ihrem Rückhalt können Massnahmen rasch mit der Regierung abgestimmt werden. Das Problem ist eher, wie die Informationen von oben nach unten gelangen.
"Dass Schutzmasken nicht mehr lieferbar sind,
hat niemand voraussehen können."
OnlineReports: War der Kanton mit einem eigenen Pandemie-Konzept auf die Virenverbreitung vorbereitet?
Dematté: Es gibt einen Pandemieplan Basel-Stadt, den das Gesundheitsdepartement erstellt hat. An den halten wir uns auch.
OnlineReports: Hält das Konzept aktuell?
Dematté: Ja, er ist sogar auf Szenarien mit stärkeren Verläufen ausgelegt. Aber solche Dinge, wie Schutzmasken, die nicht mehr lieferbar sind, hat niemand voraussehen können. Auch, dass die Grenzen geschlossen respektive starke Einreisekontrollen durchgeführt werden, ahnte man vorher nicht.
OnlineReports: Gibt es in der Bekämpfung der Pandemie Probleme, die für den Kanton Basel-Stadt mit seiner geografischen Enge spezifisch sind?
Dematté: Ja, einerseits das städtische Umfeld mit den ganzen Menschenansammlungen, wie wir sie anfangs noch hatten. Das hat sich sehr gebessert. Aber die Leute wollen raus, denn in der Stadt gibt es weniger Einfamilienhäuser mit Garten, wo sich die Leute aufhalten könnten. Zweitens ist die Grenze ein grosses Problem: Viele Grenzgänger arbeiten im Gesundheitswesen. Wenn sie nicht mehr kommen, wird es sehr schwierig für den Kanton.
OnlineReports: Die Leute befolgen grossmehrheitlich die Anweisungen, zu Hause zu bleiben. Allerdings wird befürchtet, dass es zu mehr Fällen von häuslicher Gewalt kommen wird. Sind Ihnen bereits Fälle bekannt?
Dematté: Wir befürchten eine gewisse Zunahme. Wir haben bereits Präventions-Kampagnen geschaltet, um das abzufangen. Wir sind uns des Problems bewusst und versuchen mit dem Frauenhaus, mit Informationen und psychologischer Unterstützung dem entgegen zu wirken.
OnlineReports: Erwarten Sie eine starke Zunahme solcher Fälle oder auch von Verzweiflungsakten wie Suizide aufgrund der faktischen Quarantäne?
Dematté: Ich hoffe es nicht und darum wollen wir auch keine Ausgangssperre. Wir werden Fälle mit Depressionen haben, aber solange die Leute noch raus können, können wir das Problem im Griff halten. Aber wenn sie eingesperrt würden, dann würde es ganz schwierig.
OnlineReports: Wie schützen Sie ihre Stabsmitarbeitenden und die Polizistinnen und Retter draussen?
Dematté: Im Stab halten wir uns an das Social Distancing, versuchen mit Videokonferenzen zu arbeiten und halten die Hygiene-Vorschriften ein. Die Polizisten draussen halten möglichst Abstand und setzen, wo notwendig, Schutzmasken ein.
"Die Solidarität ist gross. Die Leute
wollen helfen und arbeiten."
OnlineReports: Gab es bereits interne Personalwechsel, weil Mitarbeitende erkrankt sind?
Dematté: Wir haben innerhalb der Abteilungen der Kantonspolizei begonnen, einander auszuhelfen. Jene Mitarbeitenden, die eher weniger zu tun haben, wechseln dorthin, wo aktuell viel los ist. Es ist aber auch innerhalb des Kantons angedacht, eine Personalplattform zu erstellen, wie eine Art Stellenpool. So haben sich Verwaltungsmitarbeitende freiwillig gemeldet, um in der Hotline des Gesundheitsdepartmentes mitzuarbeiten. Die Solidarität ist gross. Die Leute wollen helfen und arbeiten.
OnlineReports: Wie eng arbeiten Sie mit Ihrem Baselbieter Amtskollegen Patrick Reiniger zusammen?
Dematté: Wir tauschen die Lagebilder regelmässig aus, telefonieren zusammen und sprechen uns ab. Er hat viel mehr Gemeinden, mit denen er sich koordinieren muss. Wir haben nur zwei, die zudem bei uns im Krisenstab sitzen.
OnlineReports: Wie klappt die Zusammenarbeit mit ihren französischen und deutschen Kollegen über die geschlossenen Grenzen hinweg?
Dematté: Der kleine Dienstweg funktioniert sehr gut. Ich habe eine Verbindungsbeamtin in Colmar, von ihr bekomme ich immer mit, was aktuell in Frankreich läuft. Auch mit Deutschland funktioniert der Austausch sehr gut. Antworten und Hilfe kommen immer schnell.
OnlineReports: Wie stellen Sie sicher, dass Grenzgänger, die in medizinischen Berufen arbeiten, auch in zwei Wochen noch über die Grenze kommen können, wenn zum Beispiel Frankreich die Grenzschliessungen weiter verstärkt?
Dematté: Hier versuchen wir, über die normalen Kanäle wie die Regio Basiliensis zu gehen. Diese Gremien sollen auf ihre jeweiligen Regierungen einwirken. Wir haben aus dem Elsass zwei Kranke aufgenommen – es ist ein Geben und Nehmen. Aber klar, in Frankreich bestimmt Paris, und das wird dann schwieriger.
"Wenn sich vier Regierungsmitglieder
anstecken, müssen wir übernehmen."
OnlineReports: Was passiert, wenn Regierungsräte sich mit dem Coronavirus anstecken würden und nicht mehr handlungsfähig wären?
Dematté: Es müssten sich mindestens vier Regierungsmitglieder anstecken, bis sie nicht mehr handlungsfähig wären. Wenn das einträte, müsste die Kantonale Krisenorganisation übernehmen.
OnlineReports: Wie ist die Hilfe der Armee angelaufen? Wo treffen wir auf Soldaten?
Dematté: Die Armee ist zurzeit mit zwei Rettungswagen bei der Sanität im Einsatz. Ab morgen Samstag werden es vier sein. Sonst sind die Soldaten vor allem im Gesundheitswesen, wie dem Unispital, im Einsatz.
OnlineReports: In theoretischen Übungsszenarien übernehmen Zivilschutz oder Armee auch andere Aufgaben wie die Belieferung der Bevölkerung mit Essen oder die Abfallentsorgung. Wann sammeln Soldaten die Bebbi-Säcke ein?
Dematté: Sollten viele Fahrer oder Mechaniker ausfallen, könnte allenfalls die Armee geeignetes Personal stellen. Es gibt auch Pläne, Abfallcontainer für die Sammlung der Bebbi-Säcke einzusetzen. Beides ist aber nicht notwendig, solange sich die Situation nicht wesentlich verschlechtert. Eine Belieferung mit Essen ist kein Thema, denn auch bei einer kompletten Ausgangssperre könnten die Leute einkaufen gehen. Wir haben am Anfang die Quarantäne-Patienten beliefert, aber das ist logistisch natürlich ein sehr grosser Aufwand.
OnlineReports: Die Sanität Basel sucht in Inseraten aufgrund der Pandemie medizinisches Fachpersonal. Kommt das nicht zu spät?
Dematté: Dieses Fachpersonal wird aktuell zur Unterstützung der Sanität und der Armee gesucht. Damit wollen wir längerfristig die Planung sicherstellen, falls die Einsatzzahlen weiter steigen oder die Personalausfälle zunehmen.
OnlineReports: Sind Blutkonserven ein Problem? Wenn ja, helfen sich die Kantone aus?
Dematté: Wie ich höre, ist dies kein Problem. Das Bundesamt für Gesundheit führt viele Telefonkonferenzen mit den Kantonsärzten durch, da können sie sich austauschen. Auch die Spitäler helfen sich untereinander.
OnlineReports: Treffen Sie Vorbereitungen für eine deutliche Zunahme von Todesfällen in Basel? Hat der Friedhof Hörnli beispielsweise genügend Kapazitäten für Kremationen?
Dematté: Wir haben grosse Kapazitäten und sind aktuell bei zwölf Todesfällen. Wir versuchen, den Verlauf in den Griff zu bekommen, bevor es so schlimm wird. Das ist auch die Idee hinter dem "Geht nicht raus": Die Kurve von Infizierten und Kranken soll nicht so massiv ansteigen.
OnlineReports: Wo lagen – im vorläufigen Rückblick – die Schwachpunkte der medizinischen und logistischen Vorbereitungen?
Dematté: Ein Schwachpunkt ist die Abhängigkeit vom Ausland, zum Beispiel beim Organisieren von Schutzmasken und Beatmungsgeräten. Logistisch müssen wir intern die Sitzungsorte überdenken, bei denen zwei Meter Abstand schwierig einzuhalten sind.
OnlineReports: Wie weit wird die aktuelle Krise auch als Übungsfeld für spätere Krisen ähnlichen Ausmasses betrachtet?
Dematté: Wir halten laufend fest, was man besser machen könnte und lernen jeden Tag wahnsinnig viel. Es wird sicher gewisse Änderungen geben.
"Ich habe Mühe, wenn sie jemand über die
Arbeitsbedingungen beim Staat beklagt."
OnlineReports: Was stört Sie aktuell persönlich an der Bewältigung der Krise?
Dematté: Wir Staatsangestellten erhalten Lohn am Ende des Monats. Es gibt ganz viele Leute, die werden keinen erhalten. Daher habe ich persönlich Mühe, wenn sich jemand über die Arbeitsbedingungen beim Staat beschwert. Auch sollten wir dankbar sein, dass beispielsweise die Lebensmittelläden, Post, Banken, Apotheken, Drogerien noch offen haben. Die Mitarbeitenden machen ihren Job und sie sind da, auch wenn sie ein grösseres Risiko eingehen als diejenigen im Home-Office.
OnlineReports: Wie setzen Sie sich als Frau in dem von Männern dominierten Krisenstab durch?
Dematté: Ich habe nicht gross das Gefühl, dass ich mich durchsetzen muss, da ich ja alle seit zwölf Jahren kenne. Das spielt sich auch immer mehr ein.
OnlineReports: Verläuft Ihr Arbeitstag länger als üblich?
Dematté: Länger nicht unbedingt, dafür aber sieben Tage die Woche. Die Sache verlässt mich nicht, ich denke bereits beim Aufstehen wieder daran.
OnlineReports: Wie schalten Sie ab und erholen sich?
Dematté: Zu Hause! Mein Mann und ich kochen jetzt viel mehr zusammen als früher. Wir machen auch Video-Apéros mit Freunden. Ab und zu lese ich auch etwas, das nichts mit dem Coronavirus zu tun hat. Wenn es geht, mache ich Sport oder spiele Klavier.
27. März 2020
Gesprächspartnerin
Simona Dematté (47), ist Stabschefin des Kantonalen Krisenstabes und Leiterin der Abteilung Operationen der Kantonspolizei Basel-Stadt. Vorher war die bilinguale Majorin Nachrichtenoffizierin bei der Kantonspolizei Freiburg. Sie studierte an den Universitäten Lausanne und Genf Germanistik, ist verheiratet und lebt in Allschwil.