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"Noch selten erlebt": Eröffnung der "Kultur-Tagsatzung" in Liestal
En famille: Auf der Suche nach Leuchttürmen und Glühwürmchen
Das Volk blieb der "Kultur-Tagsatzung" in Liestal fern, aber die schwierige Kulturdebatte war spannend und breit gefächert
Von Peter Knechtli
Mit einer 12-stündigen Debatte haben heute Samstag in Liestal an einer "Kultur-Tagsatzung" rund 250 Interessierte den Grundstein für eine neue Baselbieter Kulturpolitik gelegt. Der Zulauf war mässig, aber die multimedial inszenierten Debatten brachten auf den Tisch, wo der Schuh drückt.
Wer die zwölf Stunden auf über 60 "geistigen und emotionalen Umschlagplätzen" (so Moderator Roger Ehret) dieses ungewöhnlichen Anlasses in Liestal durchgestanden hat, brauchte wohl um einen gesunden Schlaf nicht zu bangen. Das Mammut-Programm, durch die staatliche Kulturabteilung im Auftrag von Kulturdirektor Urs Wüthrich professionell organisiert, hatte zum Ziel, den Grundstein für ein neues Kulturleitbild zu legen, aus dem später ein neues Baselbieter Kulturgesetz werden soll.
Wogen gehen weniger hoch
Genau mit der ersten Version dieses Gesetzes war Wüthrich letzten Herbst gescheitert: Der Landrat wies seine Vorlage an die Regierung zurück. Hauptkritik der bürgerlichen Parlamentsmehrheit war die Angst davor, dass die ländliche Volkskultur auf Kosten der (basel)städtischen Spitzenkultur unter die Räder kommt.
So argumentierten die Politiker wenige Monate vor den Wahlen und der Abstimmung über die Erhöhung der Baselbieter Subventionen an das Theater Basel in der geschützten Gewählten-Werkstatt des Landratssaals. Nun, nach der Regierungs-Wahl und nach abgelehntem Theater-Obolus, scheinen sich die Wogen spürbar geglättet zu haben, wie sich an der frei zugänglichen "Tagsatzung" zeigte: Man spricht wieder vernünftig miteinander – die unterschiedlichen Positionen sind freilich nicht verwischt, aber eine Annäherung, so ein erstes Fazit, scheint möglich.
Pfeffriger SVP-Auftritt
Denn den heutigen Samstag bestritten nicht in erster Linie die Politiker, sondern die überkantonale Vereinigung der Kunstschaffenden, Veranstaltern, Animatoren, Amtsleiter, Theaterdirektoren, Denkfabrikanten und Dunstkreisangehörigen. Auch einige Männer in Trachten waren auszumachen. Die Parteien, die im Landratssaal noch lärmten, zeigten sich von diesem kreativen Treibhaus nicht besonders angezogen (die SP hatte ihre Nominations-Versammlung). Viele glänzten durch Absenz. Jetzt wird sich der Herr Kulturdirektor – wohl nicht widerwillig – auf das Kultur-Milieu berufen, das mitdebattierte und somit den Fundus für das neue Kulturleitbild legte.
Ausnahme: Die SVP, die mit acht bis zehn Vertretern angerückt waren (und sei es nur zum kühlen Weissen auf der "Engel"-Terrasse) und in ihrer Lounge mit einigen pfeffrigen Slogans zur kantonalen Kulturpolitik aufwartete. Ihr Landrat Georges Thüring, mit der Volkskultur besonders eng verbunden, sagte sogar eine Nizza-Reise mit dem "Buebe-Club" ab und wurde prompt unplangemäss mit einer Alphorn-Einlage belohnt, die Wirt Felix Mühleisen vor dem "Töörli" zum besten gab.
Das Volk blieb fern
Auch das gemeine Volk blieb der Debatte fern, was sich an den Stühlen im "Engel"-Saal äusserte, die zur Hälfte leer blieben. Die Mühe, am "Welcome Desk" eine offizielle Teilnehmerzahl erhältlich zu machen, war vergeblich: Wir halten eine Zahl von 250 Tagsatzern für vertretbar.
Wer lieber an der Sonne lag oder Einkäufe besorgte, verpasste ein perfekt vorbereites und professionell durchmoderiertes Multumedia-Happening, das durch aktuelle Einspielungen aus den Schauplätzen in Videos und Ton durch "Radio X", art-tv.ch und der "Medienfalle" als "Medien-Caterer" (jawohl, das gibts) für Transparenz, Informations-Mehrwert und Abwechslung sorgte. Die "Tagsatzung", auch als Medienereignis orchestriert.
Trotz der Informations- und Meinungsflut konnte es nicht das Ziel gewesen sein, den Kulturbegriff auch nur annähernd sauber zu definieren. Dennoch entwickelten sich an den vier Schauplätzen im "Engel", im Kulturhaus "Palazzo", in der "Kulturscheune" und am Stammtisch in der "Schützenstube" mehrere Handlungsstränge, die sowohl im Interesse der Bewahrer wie auch den Vertretern eines offenen Kulturverständnisses entgegenkommen.
Klar gegen Stadt-Land-Abgrenzung
So schien deutlich zu werden, dass eine Abgrenzung zwischen Land- und Stadtkultur "nicht in Frage kommen darf". Mehrere Stimmen votierten gar für ein "regionales Kulturleitbild" und eine Ausweitung der Kulturpolitik gar über die Landesgrenzen hinaus (wer sass schon in der "Coupole" gleich hinter der Landesgrenze in St. Louis?) und betonten die "enorme Bedeutung" des Theaters Basel (der neugewählte FDP-Landrat Balz Stückelberger: "Der Theaterdirektor ist ein Standortfaktor").
Gleichzeitig aber bestätigten die Debatten an Runden Tischen, Stammtischen, Talks und Foren das Hauptergebnis einer Online-Umfrage: Das Baselbieter Volk soll bei der Kulturförderung "auf Breite und Vielfalt achten". Das war bisher nicht immer so. Es scheint, dass Knowhow in der Mittelbeschaffung den Genuss von Staatshilfe begünstigte. So beklagte eine preisgekrönte langjährige Chorleiterin, dass ihre Sängerinnen und Sänger die Theatersubventionen durchs Band abgelehnt hätten, weil ihr Gemischter Chor "vom Staat keinen Rappen erhält". Der Dorfkultur mangle es an "offizieller Wertschätzung und Wahrnehmung". Nur schon ein symbolischer Betrag von jährlich 2'000 Franken, so die Votantin, könnte die Situation emotional entspannen.
Eine konservative Stimme meinte, das Basler Theater könne Material nach Belieben verschleissen, während die Darstellerin eines Laientheaters "ihre Tracht noch auf eigene Kosten mieten muss". Wüthrich widersprach: Auch Laienbühnen und Musikvereine erhielten staatliche Unterstützung.
Industriebrachen als Kreativräume
Fleissig wurden Themen, Thesen und Träume zuhanden der Auswertung auf die runden Tischtücher gekritzelt. An frommen und realistischen Wünschen nach "Leuchttürmen" und "vielen kleinen Leuchtkäfern" fehlte es nicht: Eine Baselbieter Konzerthalle für 5'000 Zuhörer, vermehrtes Augenmerk auf die Jugend- und Nachwuchsförderung, bessere Kulturvermittlung in den Schulen, stärkere Nutzung brach liegender Werkräume als Probelokalitäten und zur Freiraum-Entfaltung auch für städtische Interessenten, ja sogar eine "Kulturraumplanung". Erhoben wurde auch die Forderung, die Gemeinden müssten sich verstärkt um Kultur kümmern. Nur gerade Liestal, Oberwil und Allschwil verfügten über ein kommunales Kulturkonzept. Schlecht kam die Idee eines "Bebbi-Passes" – Spitzenkultur-Vergünstigungen für baselstädtische Einwohner – an ("am Schluss sind wir beim Wegzoll") weg.
Pius Knüsel, der Direktor der Kultur-Stiftung Pro Helvetia, brachte das Modell der privaten Förderung, verbunden mit Steuerabzügen, ins Spiel: Die Vergesellschaftung des eigenen Schaffens, indem sich Künstler in Vereinen organisieren, was die Unabhängigkeit fördere. Gleichzeitig forderte Knüsel den "Mut zum Provinzialismus" ein: "Schaut in die Schattenzone, zündet ein Licht an!" Der mächtigste eidgenössische Kulturförderer sang nahezu eine Lobeshymne auf die Kunst "als Heilmittel": Kunst sei sozial und integrativ, bilde und mache glücklich.
Wüthrich: "Selten erlebter Konsens"
Glücklich machte Regierungsrat Wüthrich allein schon die "Kultur-Tagsatzung": Er sprach leicht euphorisiert von einem "übergreifenden Konsens wie ich ihn noch selten erlebt habe". Diese "Impulstagung" habe zu einer präziseren Definition der Stimmen und Stimmungen beigetragen. Darüber hinaus, und dies dürfte ihn besonders freuen, hat er soeben einige zusätzlich motivierte Kultur-Botschafter in der Region hinzu gewonnen. Wüthrich versprach, er wolle nach der Auswertung der Ergebnisse "mit dem Leitbild rasch vorwärts" machen.
Diese Promptheit dürfte auch das Publikum freuen: Es kann schon im Herbst, wenn der Entwurf vorliegen wird, überprüfen, wie viel Substanz der "Tagsatzung" vom 7. Mai 2011 zu Liestal in das staatliche Leitkonzept eingeflossen sein wird. Vor allzu hohen Erwartungen sei indes gewarnt: Staatliche Kulturpolitik ist zu einem wesentlichen Teil Geldpolitik und grösser wird das Füllhorn nicht.
Mitarbeit: Sabina Droll
7. Mai 2011
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