© Fotos by Mauricio Machado und Xenia Keller, OnlineReports.ch
"Krise, Einsamkeit, Heimweh": Latinos im "Casa de Campo" von Madrid
Spaniens Brüder und Schwestern kämpfen am Tor zu Europa
Bürger zweiter Klasse: Latino-Migranten geraten in Spanien immer stärker unter Druck und reisen enttäuscht in ihre Heimat zurück
Von Xenia Keller
Spanien, das Land des aktuellen Fussball-Weltmeisters, hat ein besonderes Ausländer-Problem: Nach der starken Zunahme der Einwanderung von Menschen aus Lateinamerika bilden diese nun den unteren Teil einer Zweiklassen-Gesellschaft. Viele der Immigranten leiden unter Armut, Isolation und sozialer Marginalisierung.
Auf dem steilen Weg zum See hinab bricht zunächst nur ein Rauschen die Ruhe. Bald sind es Musikfetzen, Trommeln und Rasseln. Schliesslich tut sich zwischen den Bäumen eine Lichtung auf und gibt den Blick frei auf eine neue Realität: Auf einem weiten Kiesplatz drängeln sich unzählige Lateinamerikaner zwischen dampfenden Kochkesseln, Musikboxen und Plastiktischen. Sie alle sind aus Madrid geflüchtet.
Madrid lebt, stinkt und lärmt. Im riesigen "Casa de Campo" neben dem "West-Park" tummeln sich nachts Junkies und Prostituierte, doch tagsüber ist es ruhig und viele verbringen ihre Freizeit hier. Sie fahren mit der Seilbahn, besuchen den Vergnügungspark, den Zoo oder das Schwimmbad. Doch auf dem Parkplatz beim See versammeln sich die Latinos aus einem anderen Grund: Sie flüchten nicht vor Smog, Verkehr und Lärm aus der Stadt - sondern vor Einsamkeit, Heimweh und ihrem mühseligen Alltag.
Tor zu Europa stand sperrangelweit offen
In keinem Land Europas leben so viele Latinos wie in Spanien. Gut ein Drittel der 4,8 Millionen Einwanderer sind Latinos. Ihre Präsenz ist in Madrid unübersehbar. Unzählige lateinamerikanische Nahrungsmittelläden, Restaurants, Bäckereien, Kleiderläden und Diskotheken zeugen davon. Die Mehrheit der Immigranten stammt aus Ecuador, Kolumbien und Peru und wanderte erst in den letzten zehn Jahren ein. Einfache Visa-Bestimmungen, eine grosszügige Einbürgerungsaktion im Jahr 2005 und ein wirtschaftlicher Aufschwung mit vielversprechenden Arbeitsmöglichkeiten verursachten die beachtliche und erwünschte Zuwanderung.
Auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa ist Spanien aber aus einem anderen Grund Top-Destination auswanderungsdurstiger Latinos: Die iberische Halbinsel liegt viel näher bei Lateinamerika als der Rest Europas – ein Erbe der Kolonialzeit.
Kolonisierung fordert ihren Tribut
Vor 500 Jahren stülpten die iberischen Eroberer den indigenen Völkern Mittel- und Südamerikas gewalttätig und erbarmungslos ihre Kultur über. Sie zerstörten Religionen, Mentalitäten, ganze Kulturen und Weltbilder. Doch dieser Ethno- und umstrittene Genozid schuf gleichzeitig eine bleibende Verbindung zwischen Spanien und dem sogenannten Hispanoamerika.
Die gemeinsame Vergangenheit, der ähnliche kulturelle Hintergrund und vor allem dieselbe Sprache, erzeugen bis heute eine vermeintliche Nähe. Zumindest in Lateinamerika scheint die Vorstellung einer Bruderschaft zu Spanien lebendig zu sein. Doch die Verwandtschaft trügt: "Zwar empfinden wir die Spanier als unser Brüder, doch sie sehen uns nicht als ihre", meint ernüchtert ein arbeitsloser 35-jähriger Kolumbianer mit Master-Abschluss. So empfange der europäische Bruder die Einwanderer keineswegs mit offenen Armen, guten Jobs und Wohlstand.
Bauarbeiter, Strassenwischer und Kellner – eine hohe Anzahl der Immigranten verrichtet niedere Arbeiten und kämpft mit existenziellen Problemen. Viele sehen sich gezwungen, Arbeiten teils weit unter ihrem Ausbildungs-Niveau anzunehmen.
Lange Jahre der Einsamkeit
Das Leiden ist gross. Unter den vielen Müttern, die ihre Kinder zurückliessen, um sie von Europa aus finanziell zu unterstützen. Unter den Arbeitenden, die zu schlechtesten Löhnen sechs Tage die Woche 12-Stunden-Schichten schieben. Unter den vielen Sans-Papiers, die mit der täglichen Angst vor der Polizei leben. Unter allen, die ihre Familien vermissen. Sie hoffen weiter und harren aus, weil sie keine Alternative sehen. So wird für viele der Kampf ums Überleben bald ein Kampf um Hoffnung.
Verzweiflung und Einsamkeit schleichen sich in jeden vergnügten Abend und jede Unterhaltung mit lateinamerikanischen Immigranten. Nach Jahren in der Fremde fühlen sich die Meisten weder zur alten noch zur neuen Heimat zugehörig. Zwischen Entfremdung und Anpassung versuchen sie sich ein eigenes Leben aufzubauen. Auf vielen lastet zudem ein hoher Erwartungsdruck aus der Heimat, wohin ein Teil des spärlichen Verdienstes fliesst. Viele fühlen sich von ihrer Familie unverstanden und ausgeschlossen.
Dagegen kann ein Treffen mit Gleichgesinnten helfen. Ein Treffen wie jenes an den Wochenenden im "Casa de Campo", wo die Latinos zusammenkommen und für ein paar Stunden ihre Heimat nach Madrid holen. Vielleicht fühlen sie sich immer noch einsam, aber wenigstens nicht mehr allein.
Jubel, Trubel, Heiterkeit …
Auf den Blechpfannen türmen sich Unmengen gebratenes Schwein. Daneben werden Bananen, Fleisch-Spiesse und Maiskolben grilliert. Der Rauch beisst in Augen und Nase. Hier schöpfen sie die Meeresfrüchte-Gerichte Ceviche und Encebollado aus Plastikkesseln. Dort frittiert eine Frau Empanadas, dass das Öl nur so spritzt. Andere bieten Glacé, Lollipops und Mango-Schnitze mit Salz an. Den Vorübergehenden strecken die Köchinnen Fleisch-Stücke zum Probieren hin, während andere ihre Preise und Gerichte ausrufen. Nur 5 Euro im Winter und 5.50 Euro im Sommer kostet ein zum Bersten überfüllter Pappteller Schwein mit Beilagen. Das grosse Geschäft ist damit nicht zu machen. Doch für einige ist der Markt derzeit die einzige Verdienst-Möglichkeit, wie für den CD-Verkäufer, den die Krise seinen Job gekostet hat.
Was für ein Lärm. Von links und rechts dröhnen Salsa, Reggae und Bachata aus behelfsmässig aufgestellten Lautsprecherboxen. Daneben verkaufen die Latinos haufenweise frisch importierte Musik- und Filmkopien zu Spottpreisen. Andere bringen Musikbox und Mikrofon mit, um gleich selbst zu performen. Ein kleiner Herr im properen Anzug singt und trippelt etwas abseits unbeholfen zu einer sentimentalen Cumbia. Er wird übertönt vom Gesang eines anderen, der es versteht, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Wer von euch kommt aus Peru, aus Bolivien und wer aus Kolumbien?" Gejohle. Dann fragt er, wer aus Ecuador komme. Das sind die Meisten hier. Sie stimmen ins allgemeine Gejohle ein und der Entertainer beginnt zu singen. Die Menge trinkt.
An manchen Tagen verkündet auch einer die Bibel und ruft die Anwesenden zu Solidarität und Zusammenhalt fern der Heimat auf. Sie alle spenden den Besuchern auf ihre Weise Kraft und Trost.
… Heimweh, Abfall und Schlägereien
Das Beisammensein hat aber beträchtliche Schattenseiten. Alkohol fliesst in Strömen, und die Zusammenkünfte enden nicht selten mit blutigen Nasen und stets mit Abfallbergen, die von der Stadtverwaltung wegräumt werden muss. Abgesehen davon ist das ganze Treiben illegal. Der Verkauf von Essenwaren und Getränken ist auf öffentlichem Grund verboten, der Konsum von Alkohol ebenso. Deshalb markiert die Polizei Präsenz. Viel mehr tut sie aber nicht. Brenzlig wird es selten. Sie duldet das Geschehen und spart sich die Kosten eines Grosseinsatzes gegen die hartnäckigen Verkäufer.
Unverschämt hartnäckig sind sie. Den zwei Motorrad-Polizisten, die durch die Menge patrouillieren und über das Markt-Verbot informieren, schenkt niemand Gehör. Erst als Verstärkung anrückt, Säcke durchsucht und die Präsenz der Hermandad lästig wird, packen die Verkäufer ihre Siebensachen. Schnell machen sie ihre Stände mobil, karren Töpfe und Tische hundert Meter weiter weg, um ihr Geschäft am anderen Ende des weitläufigen Kiesplatzes unbeirrt fortzusetzen.
Abgesehen von den Polizisten, verläuft sich kaum ein Spanier und schon gar kein Tourist auf den Latino-Markt. Bezeichnenderweise bleiben diese Immigranten auch im West-Park unter sich. Zwei Tage die Woche holen sie ihre Heimat nach Madrid und isolieren sich selbst, ob sie es wollen oder nicht. Die Integration wird zum Dilemma und die Trennung zwischen ihnen und den Spaniern nicht kleiner.
Gegenseitige Aversionen
Obwohl Stars wie Shakira, Juanes oder Vargas Llosa hohes Ansehen geniessen und Madrid sogar einen Latino-Radiosender hat, existieren viele, auch gegenseitige Aversionen. "Sudaca" ist die spanische Abkürzung für Südamerikaner und ein Schimpfwort gegen die lateinamerikanischen Immigranten. Viele fühlen sich, sei es verbal oder durch die häufigen Ausweis-Kontrollen, diskriminiert. "Uns Ausländern legen sie ständig Steine in den Weg und sagen, wir sollen in unsere Heimat zurückkehren", meint frustriert ein ecuadorianischer Kellner einer Hamburger-Bude, der seinerseits den Spaniern Minderwertigkeitskomplexe und Rassismus vorwirft.
Die vermeintliche spanische Fremdenfeindlichkeit hat erst kürzlich wieder für Zündstoff gesorgt. Letzten Oktober reformierte und verschärfte die sozialistische Regierung Zapateros das Ausländergesetz als Reaktion auf die massive Einwanderung. Es begrenzt den Familiennachzug nun auf Ehepartner, minderjährige Kinder, Behinderte und auf über 65-Jährige. Zudem verlängert es die mögliche Inhaftierung von illegalen Einwanderern von 40 auf 60 Tage.
Amnesty International kritisierte das Gesetz als einen Schritt zurück, und landesweit lebten die Ressentiments auf. Die neue Ordnung beschneide das Grundrecht auf das Familienleben und auf die Einheit der Familie, sagen die Immigranten, die oft sehr zahlreiche Verwandte haben. Ausserdem sei Freiheitsentzug gegen illegale Einwanderer die falsche Massnahme. Brennpunkt der Diskussion war aber die Gesetzes-Sprache, die das Immigranten-Problem einmal mehr mit Begriffen der Kriminalisierung anfasst.
Ein schneller Trost von Wahlkämpfer Morales
Der bolivianische Präsident Evo Morales (Bild, am Rednerpult) wusste deshalb letzten September genau, was er seinen "Brüdern und Schwestern" in seiner Wahlkampf-Rede in Madrid zu sagen hatte: "Als die Spanier nach Bolivien kamen, sagten unsere Grossväter nie, dass sie Illegale seien. Jetzt wo Lateinamerikaner nach Europa kommen, kann es nicht sein, dass sie als Illegale bezeichnet werden." Solange die Einwanderer die Rechte des jeweiligen Landes respektierten, hätten sie das Recht, überall auf der Welt zu leben, betont er und doppelt nach: "Aber uns als Illegale zu bezeichnen ist ein grosser Fehler."
All die Tausende Landsleute jubeln ihm zu, die Stierkampfarena von Leganés, einem Vorort Madrids, bebt. Seine Rede ist Balsam für die Immigranten-Seelen. Ihre Stimmen sind ihm sicher. Dann tritt Morales ab, die Show ist vorbei. Wie in einem kurzen Traum gab er seinen Landsleuten Stolz zurück, machte ihnen Mut und Hoffnung. Doch was bleibt, den Bolivianern in Spanien, nachdem der Enthusiasmus der präsidialen Begegnung abgeklungen ist? Ihnen bleibt die Erinnerung an seinen Besuch im Herbst 2009 und das Leben als Immigranten in einem Land, das von der Wirtschaftskrise fest in den Griff genommen wurde.
Viele Latinos wandern enttäuscht zurück
Das Überleben in Spanien erschwert sich von Tag zu Tag. Jeder Fünfte ist arbeitslos, und wo entlassen wird, müssen als Erstes die Ausländer gehen. Die Stimmung verschlechtert sich und allgemein ist spürbar, dass eine Krise immer auch Nährboden für Rassismus ist. Die heutige Situation führt dazu, dass viele aufgeben und nach Lateinamerika rückwandern. Denen, die ausharren, bleiben die Krise, die Einsamkeit, das Heimweh – und die Wochenenden im "Casa de Campo".
12. Juli 2010