© Foto by Peter Knechtli, OnlineReports.ch
"Schönes Wochenende, meine Herren": Bewertungssubjekt Flavio Cotti
Enthüllen, parlamenatrisch immun
"Schaubühne Bern": Die neuen Polit-Memoiren von Helmut Hubacher
Von Peter Knechtli
Er war einmal Journalist und ist es bis heute geblieben. Schachtelsätze kennt er nicht. Er schreibt kurz. Und bündig. Bringt es auf den Punkt. Schnörkellos. Er kann komplexe Sachverhalte herunterbrechen und gut verständlich darstellen. Seine Metaphern stehen unter Kult-Verdacht. Und vor allem: Helmut Hubacher, während 34 Jahren Basler Nationalrat (1963-1997), kennt die praktische Schweizer Polit-Mechanik wie kaum ein Zweiter. Beides zusammen, der grosse Erfahrungsschatz und die Begabung, zuspitzend zu vermitteln (und zu unterhalten), ergibt eine äusserst spannende und genussreiche Lektüre. "Schaubühne Bern - Bundesräte und andere Solisten" heisst der Titel seines neusten Buches, das kürzlich im Zytglogge-Verlag erschienen ist.
Schon in früheren Publikationen hat sich Hubacher mit der Politik und dem "Tatort Bundeshaus" (1994 erschienen und in mittlerweile achter Auflage reproduziert) beschäftigt.
"Der 'Sauhund' gehört zum Lieblingsvokabular."
In seinem neusten Band knüpft sich der mittlerweile 81-jährige Politik-Süchtige aktuelle, ehemalige und verstorbene Bundesräte und Bundesparlamentarier vor. Anhand von subjektiv ausgewählten Personen zeigt Hubacher, wie Politik erfolgreich sein und wie sie scheitern kann. In den 21 Kapiteln bekommen einige ihr Fett ab - seine SP Schweiz, die er von 1975 bis 1990 präsidierte, inklusive. Hubacher lobt, scharwänzelt, gibt Saures und zahlt zurück. So zeigt er Genossen wie der verstorbenen und von ihm verehrten Arbeiter-Bundesrat Willi Ritschard als grossen und vor allem jeglichem Dünkel abholden Vernunfts- und Staatsmann. So geht er aber auch mit (verstorbenen) Max Wullschleger, dem früheren Chefredaktor der "Basler AZ" und späteren Regierungsrat, scharf ins Gericht. "Dieser Sauhund" zitiert Hubacher den ebenfalls verstorbenen legendären Basler AZ-Lokalreporter Noldi Köng, als dessen früherer Chef Wullschleger nach der Wahl in den Regierungsrat von ihm verlangte, ihn künftig per Sie anzureden.
Dieses Prädikat aus dem Tierreich verleiht Hubacher auch dem früheren Justizminister Kurt Furgler, mit dem er eine alte Rechnung begleicht. Zwar bewertet der Autor den ehrgeizigen St. Galler Parteichristen als "vielleicht den brillantesten" Bundesrat - Eindruck machte Hubacher seine Fähigkeit zur druckreifen Rede -, doch sein Verhältnis zu Furgler blieb "ambivalent". Nicht vergessen hat ihm der Autor, dass Sportler Furgler vor Jahrzehnten bei einer Begegnung im Bundeshaus Hubachers Sohn und FC Binningen-Junior Simon einen Fussball ("Bölle") versprochen hatte. Dann zitiert er seinen Filius: "Dieser Sauhund hat mir einen Ball versprochen und nie geschickt." Wer Hubacher auch persönlich kennt, weiss, dass "Sauhund" zu seinem Lieblingsvokabular gehört.
Dieses Beispiel zeigt, wie selbst private Kleinigkeiten das Verhältnis unter den Protagonisten und Strippenziehern im Bundeshaus mitprägen. Auch der frühere CVP-Bundesrat Flavio Cotti (Hubacher: "ein jovialer Despot") kommt zwielichtig davon - als Charmeur und Schinder, der Mitarbeiter zum Arbeits-Wochenende ins Tessin fliegen lässt und sie am Flugplatz Agno ungebraucht stehen lässt: "Schönes Wochenende, meine Herren."
Das Erfrischende an der "Schaubühne Bern" ist, dass Hubacher frisch von der Leber weg aus der Erinnerung schöpft, Personen mit Sachgeschäften verbindet und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt. Weshalb eigentlich, diese Frage drängt sich bei der Lektüre unweigerlich auf, haben nicht längst auch andere Bundespolitiker(innen) ihre Erfahrungen unter der Bundeshauskuppel so ungeschminkt zwischen zwei Buchdeckeln festgehalten? Ist nur Hubacher unabhängig genug, diskrete (nicht intime) Details aus der nach aussen so verschwiegenen Berner Wurstbude bekannt zu machen? Jedenfalls hat der Grandseigneur der SPS ein publizistisches Betätigungsfeld eröffnet und seit Jahren exklusiv besetzt, das auch von andern schreibbegabten Volksvertretern erfolgversprechend genutzt werden könnte: Politiker über Politiker.
"Der Blick zurück bietet Erkenntnisgewinn."
Natürlich wird spürbar, dass Hubacher längst Polit-Pensionär und damit recht weit weg vom Fenster ist. Nur die Minderheit der Kapitel handelt von amtierenden Persönlichkeiten wie Preisüberwacher Rudolf Strahm, Christoph Blocher oder Berns Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Viele seiner Geschichten, Anekdoten und Reminiszenzen beleuchten Protagonisten der siebziger oder achtziger Jahre, von Roger Bonvin (und seinem "Furka-Loch") über Nello Celios bemerkenswerten Rollenwechsel bis zur stiefmütterlichen Aussenpolitik von Graber, Felber und Aubert. Auch auf das Scheitern von Lilian Uchtenhagen bei der Wahl zur Bundesrätin im Dezember 1983 geht Hubacher ein, oder auf das Rücktritts-Debakel um Elisabeth Kopp als erste Schweizer Bundesrätin im Januar 1989. Es fällt damit auch etwas leichter, schadlos vom Leder zu ziehen.
Man kann diesen Blick zurück als Makel empfinden - aber auch, so erging es mir bei der Lektüre, als Erkenntnisgewinn. Denn die heutigen Zustände sind die Entscheidungsfrucht von gestern. Mit seinem Elefantengedächtnis bietet Hubacher eine nützliche Erinnerungs-Hilfe zum Verständnis des politischen Wandels - sei es die Bedeutung der Aussenpolitik unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Ostblocks, die wachsende Interessen-Übereinstimmung von Bauern und Konsumenten, wie sie die Berner Ständerätin Simonetta Sommaruga geschickt bewusst machte, oder die Walliser Gesinnungs-Brutalität.
Wie weit alles, was zwischen zwei Anführungszeichen gesetzt wird, indes korrekte Zitate und nicht solche aus der Erinnerung sind, muss offen bleiben; die Quelle ist oft nicht deklariert. Hubacher erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch. Nicht einmal einen Namensindex, der nützlich gewesen wäre, enthält sein Buch, das ein etwas strengeres Lektorat verdient hätte. So paukt uns der Alt-Sozi nicht weniger als dreimal ein, dass eine bundesrätliche Vorlage ans Parlament "Botschaft" genannt wird.
Die Memoiren des herausragenden politischen Urgesteins sind Pflichtlektüre für jeden Politik-Interessierten. In der Darstellung der Personen bemüht sich Hubacher um Fairness, wobei er bei der Auswahl das Schwergewicht auf Parteifreundinnen und -freunde legte - seien es nun Jean Ziegler, Peter Bodenmann oder Ruth Dreifuss. Mal verteilt er Rosen, mal tritt er auch einem Genossen auf die Flosse ("offen ausgetragene Auseinandersetzung"). Ein Kapitel widmet der Autor so wohlwollend Bundesrat Moritz Leuenberger, dass der Eindruck entsteht, der ebenso geschmeidige wie gescholtene Verkehrs- und Energieminister habe die Streicheleinheiten nötig. "Der Mann wird schon genug geprügelt", stellt sich Hubacher schützend vor den SP-Bundesrat. Dabei ist auch zu erfahren, dass Leuenberger in seiner Zeit als Nationalrat häufig als professioneller Tester für den Gourmetführer "Gault Millaut" in Berns Beizen unterwegs war.
"Christoph Blocher erhält erstaunlich gute Zensuren."
Aufschlussreich ist das Kapitel über den linken Lieblings-Erzfeind Christoph Blocher. Der SVP-Bundesrat und Justizminister, dessen Wahl die Sozi mit dem Ende der humanitären Schweiz gleichstellten, erhält von Hubacher bei aller Kritik an seinen Privatisierungs-Plänen und seiner "Verteidigung der Lügenfreiheit" (liebäugeln mit der Abschaffung der Antirassismus-Strafnorm) überraschend gute Noten: Er halte sich dosiert ans Kollegialsystem, es stecke ein "weicher Kern" in ihm, er arbeite "effizient", er habe "keine Berührungsängste". Die Imagekorrektur mündet im Fazit: "Er macht gute Arbeit."
Mit seiner differenzierten Beurteilung Blochers bleibt Hubacher jedoch auf halbem Weg stehen: Es mangelt ihm hier an Selbstkritik. Blocher brachte Themen aufs Tapet, welche die Linke systematisch tabuisierte - höherer Anteil an Aggression und Kriminalität unter der ausländischen Wohnbevölkerung, Missbrauch mit Asylanträgen und mit der Sozialhilfe. Das Schweigen der linken Frauen und Feministinnen beispielsweise zur Tatsache, dass fast neun von zehn Vergewaltigungen durch ausländische Männer begangen werden, spricht Bände. An diese Themen, die das Wahlvolk offensichtlich bewegen, hat sich die vereinigte Linke nicht herangewagt. Dafür haben die SVP und Blocher als Mann fürs Grobe damit klar gepunktet. Dass Hubacher diese Tabuisierungs-Schuld nicht thematisiert, zeigt auf, wo die Aufarbeitung sozialdemokratischer Unterlassung auch ihre Grenzen hat. Mit den Worten Hubachers wäre hier der Kommentar am Platz gewesen: "Tagwache, Genossinnen und Genossen, hier haben wir geschlafen!"
Rundum ein Genuss sind die Frische und die ungebrochene Angriffsfreude, mit welcher der unverwüstliche Politik-Lüstling aus seinem schier unerschöpflichen Nähkästchen der parlamentarischen Leidenschaft rapportiert. Sein Enthüllungsbuch ist Hefe der politischen Debatte: Es reizt zu Zu- und Widerspruch.
Das Buch "Schaubühne Bern - Bundesräte und andere Solisten" ist im Zytglogge-Verlag erschienen. Es hat 208 Seiten.
2. August 2007