... Tashkent: Trämli für Kaltduscher
Es gibt viele Arten, eine Stadt zu erkunden. Die beste, bei weitem, ist die Methode des Fussmarsches. Auf den Geschmack gekommen bin ich schon früh. Der knapp sieben Jahre alte Peterli verliess auf seiner allerersten Entdeckungsreise das Kleinbasel (für Nicht-Basler: das mindere Basel jenseits, nördlich des Rheins). Per Pedes über die Mittlere Brücke zum Marktplatz. Bestaunen des Rathauses, dann ab in die Gegenrichtung Hügel aufwärts zum Spalenberg. Endstation war der Polizeiposten Lohnhof. Dort tauchte nach einiger Zeit Peterlis Mutter erleichtert auf. Nie mehr!! Das versprach Peterli unter tränenreichem Schluchzen. Doch er konnte es nicht lassen. Weder als Peterli und noch viel weniger als Peter.
Zugegeben, zu Fuss unterwegs zu sein, ist in manchen Städten mühsam, weitläufig. In Peking etwa, in Ho-Chi-minh-Stadt (Saigon) oder Caracas. Anders ausgedrückt: Wer New York Manhatten nur mit der Metro oder dem Caby er-fahren hat, verpasst Wesentliches. Zu Fuss sieht man einfach mehr, so die Erfahrung, kommt mit Leuten in Kontakt, kann an einer Ecke stehen oder – wie Mitte Oktober im noch immer sommerlichen Tashkent auf der legendären Seidenstrasse – in einem Cafe sitzen bleiben, Leute, Situationen, den Fluss des Verkehrs beobachten. Oder – türkischen Kaffee schlürfend – diesen Brief aus Tashkent zu Papier bringen. Wie alle Briefe, echt, mit Füllfeder auf weisses Papier natürlich ...
Die zweite Art, eine Stadt zu erobern, ist das Trämli. So vorhanden, natürlich. In der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi haben die französischen Kolonialisten ein Trämli gebaut. Heute sieht man da und dort im Asphalt noch einige Schienen-Überreste. Mangels öffentlichen Verkehrsmitteln steht der Verkehr in Hanoi kurz vor dem Kollaps. Motorräder und Roller, seit wenigen Jahren immer mehr Autos und mittendrin das öffentliche Verkehrsmittel Bus, hoffnungslos im Stau wie alle andern.
In Tashkent, der Hauptstadt von Usbekistan, aber verkehren neben einer Untergrundbahn, Motor- und Trolley-Bussen sowie Taxis auch Trämli. Es sind nicht Luxusträmli wie in Basel (grün), Zürich (blau), Bern (rot), sondern alte, uralte Trämli (weiss-grün) aus kolonial-sowjetischer Zeit. Sie schütteln und rütteln sich auf Breitspur voran. Nicht dass das Tashkenter Trämli sehr populär wäre, denn meist verirren sich ausserhalb der kurzen Stosszeit am Morgen und Abend tagsüber nur wenige Passagiere – wenn überhaupt – in die geräumigen Fahrzeuge. Tashkenterinnen und Tashkenter bevorzugen Busse. Aber auch Privatautos, in denen jedermann und jedefrau gegen ein kleines Entgelt mitfahren kann. Das funktioniert erstaunlich gut. Nachahmung empfohlen.
Auch die monumentale Metro – schönere Exemplare gibt's nur noch in Moskau und in Pjöngjang (Nordkorea) – mit einer grünen, roten und blauen Linie ist, dem geringen Zuspruch des werten Tashkenter Publikums nach zu schliessen, nicht gerade populär. Es ist wie beim Tram keineswegs eine Frage des Preises. Bus, Tram, Metro – einerlei, alle sind vergleichsweise gleich billig oder gleich teuer. Ein Tram-Billet, ob nun eine oder x Stationen kostet 400 Son oder umgerechnet 25 Rappen, Kaufkraft bereinigt – das heisst, den Tashkenter Durchschnittslohn in Betracht ziehend – wären das etwa anderthalb bis zwei Franken.
Meine Tashkenter Lieblingslinie ist die Nummer 25. Sie verkehrt im Zentrum auf der Navoiy-Strasse Richtung Westen und kurvt mit Getöse – nicht ganz so laut wie einst das Basler Trämli, Trämli, Trämli am Steinenberg beim Stadttheater und Tinguely-Brunnen – auf die Amir-Temur-Strasse Richtung Nord. Kilometer um Kilometer um Kilometer am Fernsehturm vorbei an die Stadt-Peripherie.
An der Endstation gönnt sich Tramführer Jurij fünfzehn Minuten Pause. Wir kommen ins Gespräch. Meine spärlichen Russisch-Kenntnisse reichen knapp. Doch, sagt Jurij, der Job gefalle ihm – choroscho –, auch wenn er nicht gerade gut bezahlt sei, aber es reiche. Das Trämli sei zwar alt, gewiss, aber stabil und zuverlässig.
Wir rattern am Fernsehturm, Regierungsgebäuden und dem Goethe-Institut vorbei ins Zentrum zurück. Hin und wieder betätigt Jurij die schrille, durch Mark und Bein gehende Warnklingel. Nicht zu überhören selbst im dichten Stossverkehr. Fussgänger und Autos lassen sich nicht zwei Mal bitten. Im Tram nicht eine einzige Reklame. Was für eine Wohltat. Dafür Radio. Vom Führerstand wechselt Jurij an und ab die verschiedenen Programme des Staatssenders. In zackiger, lauter Fahrt telephoniert Jurij auch ungeniert mit seinem Handy oder steckt sich eine Zigarette an.
An der Endstation der Linie 25 ist Mittagspause. Wir essen in einer Strassenkneipe Kebab mit Fladenbrot, Gurken, Tomaten, Eiern. Dazu – nein, natürlich nicht Bier oder Wodka – sondern Kola. "Alkohol im Dienst, nie", sagt Jurij lachend, "aber wie du gesehen hast Nikotin".
Summa summarum: Eine Fahrt auf der Tashkenter-Linie 25 für 25 Rappen ist fast so gut wie ein Fussmarsch. Besser noch: im Unterschied zu den High-Tech-Trämli ist das weiss-grüne in der usbekischen Hauptstadt noch ein Trämli für heroisch-krasse Kalt-Duscher. Und selbstverständlich Duscherinnen.
26. Oktober 2009