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Freisinnige wollen das Baselbiet "fundamental reformieren"
Die Baselbieter FDP hat Grosses vor, um das Finanz-Desaster zu überwinden: Mit einer Vorstoss-Lawine will die Partei eine "fundamentale Reform" des Kantons anschieben – und jährlich zusätzliche 100 Millionen sparen.
Liestal, 1. Dezember 2015
Die zähen Diskussionen um die Beteiligung des Baselbiets an der Basler Universität und den städtischen Kulturleistungen machen allein schon deutlich, wie sehr die Finanzmisere den Landkanton blockiert. Vom 180 Millionen-Sparpaket der Regierung mit seinen 132 teils heute schon heftig umstrittenen Einzelmassnahmen ganz zu schweigen. Von Aufbruch ist schon lange nichts mehr zu spüren. Unfinanzierbare Strassenbau-Pläne dominieren dafür die Agenda – und erleiden (wie kürzlich die "Elba"-Vorlage) vor dem Volk Schiffbruch.
FDP will Regierungs-Paket durchwinken
Die Freisinnigen sind – wie heute Dienstagmorgen an einer Medienkonferenz in Liestal fünf Landräte bekannten – bereit, "Kröten zu schlucken" und sämtliche 132 Massnahmen durchzuwinken, auch wenn sie ihnen und ihrer Wählerschaft im Einzelnen weh tun. Dazu gehören auch ein genereller Lohnabbau um ein Prozent, versteckte Steuererhöhungen, höherer Selbstbehalt bei Krankheitskosten oder der Vermögensverzehr.
Doch damit nicht genug: Mit nicht weniger als 24 parlamentarischen Vorstössen, die in den kommenden Monaten eingereicht werden, wollen sie die Ebbe in der Staatskasse ganz grundsätzlich überwinden: Mittel- bis langfristig streben sie eine "Fundamental-Reform" des Kantons an, die ihr landesweit den Rang des "Klassenbesten" eintragen soll, wie Finanzpolitiker Christof Hiltmann und Fraktionspräsident Rolf Richterich sich ausdrückten. Das Baselbiet müsse sich "an der Privatwirtschaft und an andern Kantonen ein Beispiel nehmen".
Mühe mit der Steuerkurve
Die kantonale Verwaltung soll zugunsten deutlich verstärkter Gemeinde-Kompetenzen verkleinert werden und die "effektivste und effizienteste Organisation" darstellen. Darüber hinaus sollen die Rest-Verwaltung das "schlänkste Aufgaben-Portfolio" betreuen und die öffentlich-rechtlichen Organisationen mit einem möglichst hohen Eigenfinanzierungsgrad brillieren. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen von der "modernsten Steuergesetzgebung" profitieren können. Die heutige Steuerkurve führe dazu, dass ein Drittel der Steuerpflichtigen keine Steuern zahlen, die oberen Einkommen aber gleichzeitig "sehr ungünstig" belastet werden.
Darum wird die FDP-Fraktion in einer ersten Phase, sozusagen als Diskussionsappetit-Anreger, fünf Vorstösse einreichen. Denn die "Finanzstrategie 2016-19" (wie die Regierung das Sparprogramm nennt) sei "erst der Anfang". Ein Postulat verlangt von der Exekutive bis Mitte nächsten Jahres einen Vorschlag, wie die Staatsrechnung ab 2017 zusätzlich um weitere 100 Millionen Franken entlastet werden kann. Mit einem weiteren Postulat soll die Regierung prüfen, wo kantonale Verwaltungs-Dienstleistungen abgebaut und zu besseren Konditionen am Markt über die Privatwirtschaft eingekauft werden könnten.
Braucht es den Kanton noch?
Ein weiteres Postulat (Titel: "Braucht es den Kanton überhaupt?") befasst sich mit der Frage des Einsparpotenzials bei der Verlagerung von heute – stark zentralisierten – kantonalen Aufgaben an die Gemeinden. Von einer verstärkten Anwendung der Subsidiarität erhoffen sich die Freisinnigen laut Landrätin Saskia Schenker weitere Ausgabensenkungen. In einer Interpellation stellt die FDP bei der staatlichen Pensionskasse darüber hinaus das Leistungsniveau von 60 Prozent des letzten versicherten Salärs ins Frage.
Landrat Michael Herrmann verwies darauf, dass das Baselbiet ertragsmässig zu den "Top-Kantonen" gehöre, aber unter der Last "überproportional wachsender Ausgaben" leide. Bei den Kostentreibern Universität, Alterszentren-Finanzierung und Gesundheit richteten sich die Ausgaben nicht nach den Einnahmen. In der Vergangenheit seien – auf die von Freisinnigen geleitete Finanzdirektion angesprochen – Fehler gemacht worden. "Aber das passiert, solang es einem gut geht."
"Raus aus der Kuschelzone"
An der Präsentation der Freisinnigen war spürbar: Da fielen Sätze, die vor den Wahlen (da sind die Parteien vorzugsweise watteweich) nicht gefallen wären: "Wir wollen die Leute aus der Tabuzone holen", die "Kuschel-Zone" müsse jetzt verlassen werden, "wir gehen jetzt in den politischen Infight" oder "Wir streben einen Paradigmenwechsel an". In der Tat: Die Freisinnigen scheinen zu einer friedlichen Revolution entschlossen, die sich im Aufbrechen verkrusteter Strukturen und Denkmodelle und dem Kampf gegen "links-grüne Begehrlichkeiten" äussert.
KURZ-KOMMENTAR: Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der freisinnigen Offensive zunächst einmal markanter Widerstand erwachsen wird. Denn niemand verzichtet einspruchslos auf Leistungen und Privilegien. Und wie weit die SVP, die zusammen mit der FDP den Landrat majorisieren kann, sich der "Fundamental-Reform" mit durchschlagender Wirkung anschliessen wird, bleibt abzuwarten – von den übrigen Parteien ganz zu schweigen. Nur: Wer hat den verheissungsvolleren Ansatz?
Kommentar: Die Reform-Provokation der Baselbieter Freisinnigen
Bild von links: Michael Herrmann, Christine Frey, Rolf Richterich, Saskia Schenker, Christof Hiltmann
"Da hapert es bei den Kritikern"
Klar, dass jede Entlastungsmassnahme umstritten ist. Sparen tut weh. Doch "weiter wie bisher" ist keine Lösung. Eine Anhebung der Steuern löst das Problem der explodierenden Ausgaben nicht. Wir wären rasch wieder am selben Punkt. Der Kanton ist bei den Steuern auf tiefen Einkommen sozialer als Basel-Stadt. Im landesweiten Vergleich sind wir bei den Steuern auf mittleren Einkommen im hintersten Mittelfeld und bei den Steuern auf hohen Einkommen ganz weit hinten.
Wir müssen es hinkriegen, dass die Ausgaben nicht stärker wachsen als die Wirtschaft und die Steuerkraft. Wir müssen die galoppierende Ausgabensteigerung stoppen. Jede Entlastungsmassnahme wird einzeln beraten und beschlossen. Wer ablehnt, müsste einen Alternativvorschlag bringen. Da hapert es bei den Kritikern ziemlich. Der Strauss sagt Nein und steckt den Kopf in den Sand.
Marc Schinzel, Landrat FDP, Binningen
"Meist in die falsche Richtung"
Es wäre tatsächlich an der Zeit, dass die Baselbieter Liberalen nach den uralten Prinzipien des Freisinns (mit) reformieren würden. Dazu braucht es jedoch die richtige Grundhaltung. James Madison, einer der Giganten unter den Gründervätern der USA, sah drei Motive in der Politik: "ambition", "personal interest" und "public good". Während Ambition sich durch Gegenambition neutralisieren lässt, bilden Eigeninteresse und Gemeinwohl die eigentlichen Pole der Politik (also nicht per se Rechts und Links).
Wo die Liberalen stehen in Baselland, ist nicht leicht zu bestimmen. Wesentliche Programmpunkte wie Privatisierung und Einsparen sind für sich in Ordnung. Wenn (wie so oft) leichtsinnig angegangen, führen sie aber schnell zu Verlust an (öffentlicher) Kontrolle, zu Vetternwirtschaft, zu unangenehmen Kostenwahrheiten und folglich zu Kahlschlag. "Leider", so schrieb Madison, "überwiegen die beiden ersten Motive (Ambition und Eigeninteresse) meistens".
In einem der Pionierländer des New Public Management steht zum Beispiel die "Thuiszorg" (Spitex) inzwischen vor dem Konkurs. "Angst" und "Chaos" scheinen jetzt zu herrschen in den Niederlanden. Und natürlich muss wieder mal der Staat nachhelfen, weil die Gemeinden den privaten Dienstleistern nicht noch mehr bezahlen wollen/können. Will man in Baselland wirklich so eine Abwärtsspirale? Die ersten Wahrzeichen dieser Art manifestieren sich auch im Kanton bereits deutlich genug.
Reformieren führt halt schnell zu Schnellschüssen, zu Luftsprüngen und somit zum Deformieren. "Gute Regierungsführung", wusste schon Madison, "besteht aus zwei Eigenschaften: erstens Treue zum Basiszweck, nämlich dem Glück der Gesamtbevölkerung; zweitens dem Wissen um die Mittel, dies zu erreichen". So wie sich der Freisinn verhält, gibt es gerade dazu Grund zu zweifeln. Frischer Wind und Arbeit für die Freiheit und das Glück der Bewohner und Bürger sieht auf jeden Fall ganz anders, viel gediegener, überlegter und altruistischer aus.
Die Baselbieter FDP sollte sich fragen: Stimmt unsere Grundhaltung nach den ganzheitlichen Prinzipien des Freisinns. Ist die angestrebte Reformation positiv und konstruktiv für alle? Die Baselbieter FDP schaut meist in die falsche Richtung, bleibt stecken bei einer Detailsicht und sucht öfters den falschen Partner aus. Das sind schlechte Voraussetzungen. Nicht der Staat ist das primäre Problem, es sind im schlechten Fall die Leute, die den Staat gestalten.
Wichtig bleibt unter allen Umständen, dass die Entwicklungsrichtung stimmt und bereits Erreichtes nicht einfach aufs Spiel gesetzt wird. Es wäre zu hoffen, es gäbe bei den Baselbieter Liberalen Sinn für Reformation, wie es bei Jefferson und Madison als politischen Denkern und Praktikern der Aufklärung und der amerikanischen Gründerzeit der Fall war. Künftige Generationen werden ihnen (den Baselbieter Liberalen) dafür sicher danken. Auf die immer wieder drohende "Ideologie des Egoismus" möchten sie bald einmal verzichten können.
Peter Toebak, Liestal
"Was bedeutet das für die Menschen im Baselbiet?"
Und was heisst das Alles ganz genau für die Menschen, die im Kanton Basellandschaft leben? Für jene mit geringem oder mittlerem Einkommen? So viel Klarheit müsste doch sein. Und weshalb genau wird eine Aufgabenerfüllung billiger, wenn sie durch die Gemeinde und nicht durch den Kanton geleistet wird? Gibt es hierzu Beispiele? Wahrscheinlich schon. Zudem: ist jede Gemeinde, unabhängig von ihrer Grösse (oder Kleinheit) in der Lage, solche Aufgaben zu übernehmen? Wahrscheinlich nicht.
Wie gelingt es, qualifizierte Leute für die Mitarbeit in der Kantonsverwaltung zu gewinnen, bei diesen nicht gerade zukunftsfrohen Botschaften? Weshalb sollte sich ein wertschöpfungsintensives Unternehmen dazu entschliessen, den Sitz ins Baselbiet zu verlegen, wenn laufend weitere trostlose Perspektiven entwickelt werden? Was spricht eigentlich dagegen, zunächst einmal einige der 130 Vorschläge wirklich umzusetzen, ohne gleich neue sauerstoffarme Luftschlösser in die Welt zu setzen?
Ein altes Sprichwort lautet: "die Hoffnung stirbt zuletzt" – im Baselbiet wird der Satz offensichtlich umgedreht.
Peter Schmid-Scheibler, e. Regierungsrat, Muttenz
"Freiheit ohne Verantwortung"
Jetzt zeigt die FDP ihr wahres Gesicht. Nach dem Motto: Nur ein schwacher Staat ist manipulierbar und somit ein guter Staat. Freiheit ohne Verantwortung. Liberal ist aber anders.
Nicolas W. Müller, Basel
"Fundementale Frage-Löcher"
Den Staat oder die Freisinnigen abschaffen? Ich plädiere ganz klar für das Zweite, weil sich da fundementale Frage-Löcher öffnen:
- Verheissung einer wunderbaren, fundamental reformierten Zukunft nach deren Gusto ?
- Unseren Staat Baselland (immerhin unsere Lebensgemeinschaft) zum Vorteil der freisinnigen AutorInnen zertrümmern?
- Wer hat schon Vertrauen in Menschen, welche frei von allen Sinnen (oder auch gesundem Menschenverstand) sind?
- Wurde da nicht einfach mit einem neu kreierten Heissluftgebläse ins eigene Bein geschossen?
Ueli Pfister, Gelterkinden
"Aus dem Staat Gurkensalat"
Ich fasse es nicht. Gerade wenn man denkt, der Leistungsabbau der rechtskonservativen FDP-/SVP-Regierung im Baselbiet bei der Bildung, beim U-Abo und bei der Kultur sei unübertrefflich rückwärtsgewandt, unsozial und daneben ... dann kommt nochmals die FDP.
Sie will das Baselbiet "fundamental reformieren" und meint damit ihre Pläne, rücksichtslose Abbau-Fantasien umzusetzen, weil sie jetzt im Parlament die Mehrheit hat.
Das ist die FDP:
1. Bei den tiefen Einkommen sollen die Steuern erhöht werden.
2. Beim Kanton sollen neben den 180 Millionen vom Sparpaket gerade nochmals 100 Millionen abgebaut werden.
3. Die Renten der Kantonsangestellten sollen gesenkt werden.
Die FDP macht aus dem Staat Gurkensalat.
Adil Koller, Ko-Präsident SP Baselland, Münchenstein
"Armseliger Zustand"
Auf den kurzen Nenner gebracht bedeuten die freisinnigen "Reformen" vor allem eines: Die Kantonskompetenzen werden zu Gunsten von Gemeindekompetenzen verringert. Die steuerzahlende Bevölkerung darf sich somit vielleicht über gesenkte Kantonssteuern freuen. Dies wird dann sicherlich über die massiv erhöhten Gemeindesteuern hinwegtrösten. Kurzum – Reformen für die Tonne, welche den armseligen Zustand des politischen Baselbiets auf traurige Art belegen.
Phil Bösiger, Basel