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Quälende Erinnerungen an die nie gelebte Kindheit

Zehntausende Schweizer Buben und Mädchen fristeten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein zumeist elendes Dasein als Verdingkinder. Heute Mittwochabend standen einige von ihnen als Erwachsene in der Universität Basel im Mittelpunkt des Interesses. Ein berührendes Ereignis.
Basel, 5. November 2008

Nie sind wir so hilflos wie als Kind. Ein Glück deshalb, wer von liebevollen Eltern aufgezogen wird und bei ihm wohl gesinnten Menschen gross werden darf. Ein kaum fassbares Elend jedoch, wer als Kind nicht anerkannt, missbraucht, versklavt, gedemütigt oder von seinen Eltern aus nackter Not oder Verantwortungslosigkeit weggeben wird – als Verdingkind zum Beispiel. In der voll besetzten Aula der Universität Basel trafen sich Frauen und Männer, die ihr Leben in Heimen oder Pflegefamilien als Verdingkinder beginnen mussten (Bild). Ihnen war der Abend gewidmet, und für einmal standen sie im Mittelpunkt. "Zum ersten Mal glaubt man uns, was passiert ist", sagte einer von ihnen gerührt.

Obwohl seither Jahrzehnte verflossen sind, kämpften auch jene drei ehemaligen Verdingkinder auf dem Podium mit den Emotionen. Elisabeth Götz, Alfred Ryter und Elisabeth Wenger versuchten das, was Ihnen widerfahren war, zu erklären. Es blieben Andeutungen, viel zu kurz die zur Verfügung stehende Zeit. Aber die paar Worte berührten, und sie liessen die tiefen seelischen Wunden erahnen, die jederzeit plötzlich wieder aufreissen können. "Es kommt heute noch hoch", sagte Alfred Ryter, um den Schicksalsgefährten eine noch junge Erfahrung mitzuteilen: "Redet darüber!" Wer die Erinnerungen zulässt und über erlittenes Leid wie Willkür, Verachtung, verweigerte Bildung, sexueller Missbrauch, Ausbeutung oder Sadismus sprechen kann, hat es leichter.

Abgeschoben in Heime oder zu Pflegefamilien


279 ehemalige Verdingkinder haben sich entschieden, ihre Lebensgeschichten in Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds zu erzählen, das von den Basler Universitätsprofessoren Heiko Haumann, Ordinarius für Geschichte, und Ueli Mäder, Ordinarius für Soziologie, geleitet und zwischen 2005 und 2008 von Marco Leuenberger und Loretta Seglias koordiniert und wissenschaftlich durchgeführt wurde. Sie haben, mit Hilfe weiterer Forschenden, den freiwilligen Betroffenen zugehört und zahlreiche bewegende Geschichten sammeln können.

Was heute in den armen Ländern immer noch zum Alltag gehört, war in der Schweiz bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls anzutreffen: So wurden Zehntausende schulpflichtiger Kinder an fremden Orten als billige Arbeitskräfte eingesetzt, vor allem in der Landwirtschaft. Die meisten dieser Buben und Mädchen waren elternlos. Oder sie waren unehelich geboren worden. Oder sie stammten aus mausarmen oder zerrütteten Familien. Also wurden sie – zumeist von den Behörden selbst – "fremdplatziert". Und zwar bereits als Säuglinge oder im "arbeitsfähigen Alter", wie es in der Studie heisst. Man brachte die meisten der Befragten zu einer Pflegefamilie, eine kleine Minderheit wurde in Heime gesteckt.

Als Teil des Gesindes der Willkür ausgesetzt

"Meist wurden sie als billige Arbeitskräfte in Pflegefamilien gegeben. Sie waren Teil des Gesindes und mussten oftmals mindere und sehr schwere Arbeit leisten", stellten die Forschenden fest. Und: "Auch waren sie der Willkür ihrer Arbeitgebenden ausgesetzt. Durch die Zugehörigkeit zum Gesinde gehörten die Verdingkinder zur untersten sozialen Schicht. Die Gefahr von Machtmissbräuchen und Ausbeutung war für sie besonders gross. Viele ehemalige Verdingkinder berichten von physischen, sexuellen und psychischen Missbräuchen."

Allerdings wurden den Aussagen nach nicht alle Verdingkinder nur schlecht behandelt. Einige erklärten gar, an ihren Pflegeorten besser behandelt worden zu sein als daheim. 35 Plätze wurden von den Betroffenen als "sehr gut", 102 als "gut", 122 als "schlecht" und 66 als "sehr schlecht" eingestuft. Die Mehrheit der befragten Ex-Verdingkinder war in ihrer Kindheit an mehreren Orten platziert. Daran mochten sie sich erinnern, oft im Gegensatz zu den Gründen, warum sie ihr Zuhause verlassen mussten. Die meisten wussten dazu keine Antwort, ihnen fehlten schlicht die Informationen.

Keine Ahnung über die Gründe

"Oft wurden die Kinder nicht über die Gründe für eine Wegnahme aus der leiblichen Familie oder eine Umplatzierung informiert", heisst es in der Studie. "Zum Teil lassen sich diese Gründe auch bei der späteren Durchsicht der eigenen Akten nicht mehr genau nachvollziehen. So können zu 269 Platzierungen (37 Prozent) keine Gründe mehr nachvollzogen werden. In vielen Fällen gab es nicht einen einzigen Grund, sondern gleich eine Kombination von mehreren zu einer Fremdplatzierung."

Die am meistgenannten Gründe für Platzierungen ausserhalb der leiblichen Familie seien neben der Armut (58) der Tod der Eltern oder eines Elternteils (61) gewesen, die eigene uneheliche Geburt (38), die Scheidung (30) oder Alkoholsucht der Eltern (11). Bei einer Umplatzierung seien aber auch Gründe wie etwa die Auflehnung gegen die Lebensbedingungen (11), eine Rückkehr zu den Eltern oder einem Elternteil (8), physische (15) und sexuelle (6) Übergriffe, Unfall oder Krankheit (13), aber auch eigene Straffälligkeit (5) oder Bettnässen (2) angegeben worden.
 
Stellvertretend für 135 Millionen ausgebeutete Kinder

Zu Ehren der ehemaligen Verdingkinder war auch der Baselbieter Regierungsrat und Erziehungsdirektor Urs Wüthrich nach Basel gereist. Er hatte selber ein Verdingkind in seiner Familie: Sein Grossvater, ein Emmentaler. Dessen Schicksal, so Wütherich, habe ihn beeindruckt und wohl auch etwas geprägt.

 

40 der gesammelten Lebensgeschichten sind nun von Marco Leuenberger und Loretta Seglias in dem Buch "Versorgt und vergessen" (Rotpunktverlag, 38 Franken) zusammengefasst worden. Die ehemaligen Verdingkinder auf dem Podium und im Publikum waren aber nicht nur ihrer eigenen Schicksale wegen nach Basel gekommen.

Mit ihrer Anwesenheit erinnerten sie auch an die heute von der UNICEF gegeisselte Kinderarbeit auf der Welt: Es sind gegen 135 Millionen Mädchen und Buben, die – wie sie vor wenigen Jahrzehnten in der Schweiz - heute auf Farmen und Plantagen eine erbärmliche, von schwerer Arbeit und Ausbeutung gezeichnete Kindheit erleiden müssen.



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