Hansjörg Reinau-Krayer: Das Gedicht zum neuen Jahr
Binningen, 31. Dezember 2020
Wir freuen uns, unseren Leserinnen und Lesern erneut einen poetischen Leckerbissen präsentieren zu dürfen. Autor des Gedichts, das er an seine Freunde schickte und das wir Ihnen nicht vorenthalten möchten, ist der Binninger Hansjörg Reinau–Krayer. Er war Spezialist für alte Sprachen und ehemals Latein- und Griechischlehrer am Basler Kohlenberg-Gymnasium. Viel Spass!
Blickt man zurück auf dieses Jahr,
wird niemand sagen: "Wunderbar!".
Ein kleines, unscheinbares Tierchen,
genannt nach einem feinen Bierchen,
hielt uns in Atem permanent
und zeigte sich höchst resistent.
"Lockdown", "Hydroxychloroquin",
"R-Wert", "Remdesivir", "Vakzin",
"Tracing", "m-RNA", "Latenz",
"Aerosole", "Inzidenz",
"asymptomatisch", "Homeschooling",
"FFP", "Social Distancing",
"Homeoffice", "Dexamethason",
"Inkubation", "Isolation",
"Mitigation", "Mortalität",
"Spreader-Event", "Letalität":
alles Vokabeln dieser Tage,
in aller Munde, eine Plage.
Der Wirtschaft ging es an den Kragen,
von allen Seiten kamen Klagen,
die Fasnacht wurde schlicht kassiert
(und doch war'n immer mehr maskiert,
sodass man beinah' überall
empfand, es sei doch Karneval),
im Frühling stand man lang verdrossen
vor Beizen, welche war'n geschlossen,
dito Theater, Fussballstadien,
und Kinos: nur in kleinen Radien
bewegte man sich während Wochen,
Kontakte waren unterbrochen,
es trafen Herren sich und Damen
nur noch in ganz intimem Rahmen,
mit ungewöhnlich langen Haaren,
wie man sie trug vor vielen Jahren,
weil überlang griff, quel malheur,
zur Scher' kein einziger Friseur;
und kürzlich hat man uns geraten,
statt unter'm Weihnachtsbaum den Braten
im Kreis der Lieben zu gustieren,
im finster'n Walde zu dinieren
und uns davor gewarnt, zu singen,
dass nie die Glocken süsser klingen.
(Nur etwas gibt's wie eh und je:
das Wedeln durch den hohen Schnee;
es wage, meint man in Zermatt,
Corona sich kaum aus der Stadt
und soll verschneite Berge hassen:
ob's stimmt? So what, gut für die Kassen!).
Kurz: wenn es durchaus ist plausibel,
zu nennen dieses Jahr horribel,
ist dennoch nicht zu übersehen,
dass, was in diesem Jahr geschehen,
nicht durchwegs unerfreulich war.
Die Luft war wieder hell und klar
und über weite Strecken reiner,
denn in den Lüften war kaum einer,
das Meer, was kaum mehr einer kennt,
war wieder ziemlich transparent,
weil keiner mehr die Cruiser nutzte
und den Okeanos verschmutzte,
und auch von buntgeschuppten Fischen,
die munter durch die Wogen zischen,
seit langem wieder einmal voll.
Man blieb, und das ganz ohne Groll,
im eig'nen Land zur Sommerszeit
und reiste nicht mehr möglichst weit
herum, wie man das war gewohnt,
und fand, das habe sich gelohnt.
Statt von Event sich zu Event,
zu hangeln, wo sich jeder kennt
und man nach Hunderten von Küsschen,
die jetzt verboten, bis zum Schlüsschen
des Abends Seichtes meist verbreitet,
bevor man dann nach Hause schreitet,
hat plötzlich man entdeckt, dass sehr
oft weniger fürwahr ist mehr,
und dass nicht Pflicht ist, sondern Kür,
wenn gut es ist, des Buchs Lektür'.
Echt gute Kunde hat erreicht
(die froh'ste Botschaft war's vielleicht)
zudem uns kürzlich aus den Staaten;
berichtet wurde uns von Taten,
die uns wahrhaftig machen froh:
gelungen ist es Sleepy Joe,
den blonden Twitter-Clown zu stürzen
und dessen Amtszeit zu verkürzen.
Auch wenn er noch im Weissen Haus
verharrt, ist bald sein Spielchen aus:
trotz deklamiertem "Erdrutschsieg"
heisst's jetzt für ihn: "Flieg, Donald, flieg!".
Nachdem er – dies war noch das Beste
in seiner Amtszeit – vor dem Feste
des Danks, vergessend seinen Zorn,
den fetten Turkey namens Corn
grossmütig hat davor bewahrt,
zu kommen auf die Speisekart',
fährt nun der Zügelwagen vor;
samt Möbel wird entfernt der Tor
und auch sein Weib, die Melanie:
vermissen werden wir sie nie.
Mag künftig er in Mar-a-Lago
am Morgen trinken sein Banago,
derweil bei ihm Giuliani sitzt
und schwitzt und schwitzt und schwitzt und schwitzt,
und immer noch, wobei er flucht,
nach Wahlbetrugsbeweisen sucht,
und mag er, wenn auch unbeholfen,
nichts andres tun als einfach golfen
und nachts, um bei ihr Trost zu suchen,
zuweilen Stormy Daniels buchen.
Genug, ihr Brüder und ihr Schwestern;
wir woll'n vorab, was gut war gestern,
behalten in Erinnerung
und, ob wir alt sind oder jung,
vergessen alle uns're Sorgen
und freu'n uns auf den nächsten Morgen,
denn dass es weitergeht, ist klar;
deshalb mein Wunsch: Prosit Neujahr!