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Der Schrittzähler hat mich zu einem ganz Netten gemacht
Basel, 25. Juli 2018
Wie bitte – Sie tragen keinen Schrittzähler? Gehört doch heute zur Alltagsausrüstung der urban-zeitgenössischen Bürgerin und zum ländlich-affinen Gesundheitsbewussten wie der Knopf im Ohr, das Handy in der einen und den Trinkbecher samt ökologischer Zwischenverpflegung in der andern Hand. (Die Hand lässt sich so halt zum Gruss nicht mehr reichen, dafür ist ersatzweise ein blasses "Hallo" möglich.)
Es war kurz vor letzten Weihnachten, als ein ehemaliger Schulkollege und Sitznachbar in Deutsch und Geschichte in "Facebook" die mittelmässige Foto einer Apotheke in Spanien postete. "Vor dieser Apotheke", schrieb er, "habe ich meinen millionsten Schritt getan".
Das Apotheken-Foto als Initialisation
Diese Bild-Nachricht weckte ebenso meine Bewunderung wie meine Neugier, und ich nahm Kontakt mit S. L. auf, den ich seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen habe, und der es sich im Süden längst gut ergehen lässt. Er klärte mich auf. Wenige Minuten später hatte ich die "Steps"-App auf mein iPhone geladen und marschierte mit einem Vorsatz los, den ich bis heute recht konsequent umsetze: In Basel bewege ich mich nur noch zu Fuss – vom Bahnhof ins Büro, vom Büro zum Informanten-Treffen im Kleinbasel, von dort zum Mittagessen, zum Postfach, ins Büro und wieder zum Bahnhof. Tagesziel an regulären Arbeitstagen: über 10'000 Schritte.
Schon nach einigen Monaten zeigte mir der Schrittmesser zu meinem Erstaunen meinen millionsten Schritt an. Aber etwas Anderes liess mich fast noch mehr staunen: meine neue Freundschaft zu den Automobilisten.
Das praktizierte Fussgängertum bringt es mit sich, dass Strassenüberquerungen unvermeidlich sind. Und siehe da: Die Vierrad-Piloten bremsen vor dem Zebrastreifen ab, manche geben sogar ein Handzeichen. Immer und überall. Auch Chauffeure von Lastwagen und Sattelschleppern treten auf die Bremse, damit ich mein Übergewicht gefahrlos über die Fahrbahn bringe.
Handzeichen schafft Glücksgefühl
Plötzlich wurde ich ein Freundlicher und musste Einsicht üben: Doch, sie sind nett, die Automobilisten. Schnell begann ich, ebenfalls eine Reaktion zu zeigen, indem ich als Zeichen des Dankes für eine grundsätzliche Selbstverständlichkeit die Hand hob – und immer wieder ein Winke-Winke zurück erhielt. Nur selten erlebte ich, wie ein Lenkrad-Held Vortritt beanspruchte und noch rasch aufs Gaspedal drückte.
Es mag erstaunen: Die Strassenüberquerung ist für mich zum Rücksichts- und Gemeinschaftserlebnis geworden. Die Erlangung des vollkommenen Fussgänger-Glücks bedarf so wenig an Interaktion. Aber es braucht sie. Ich stelle mir vor, dass der bremsende Automobilist vielleicht auch einen Glücks-Moment empfindet – weil sein korrektes Verhalten auf Wahrnehmung stösst.
Vorsicht: Radfahrer!
Dennoch ist am Strassenrand Vorsicht angezeigt. Die Gruppe der Velofahrenden – in den allermeisten Fällen von reiner Vernunft beseelt – ist die riskanteste. Es gibt einige unter den Zweirad-Langsamverkehrenden, die sich gegenüber Fussgängern als "schwächer" empfinden und daher resolut den Vortritt für sich reklamieren. Sie ignorieren den Zebrastreifen-Benützer und brausen geradeaus weiter. Weil sie ja eben vortrittsprivilegiert sind. Meinen sie.
So geniesse ich, was Aurel Schmidt als Buchtitel wählte ("Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden") und halte ich am Strassenrand sicherheitshalber weiter Blickkontakt zu allem, was naht. Bei einem aktuellen Schrittzähler-Stand von 1'211'571.
Nachtrag vom 26. Juli 2018. Aufgrund einer nicht zur Veröffentlichung bestimmten Mail einer Leserin möchte ich deklarieren, dass ich seit Beginn meiner Gehen-Ära kein Gramm Lebensgewicht verloren habe. Hingegen möchte ich anfügen, dass kollektiv angewandte Kontaktgesten mit Auge, Hand, Kopf oder wie immer zu einem generell verbesserten Gemeinschaftsgefühl beitragen könnten.
Weiterführende Links:
- Gehen bedeutet eigentlich die ganze Welt
- Mörderische Schlaffheit: Weniger sitzen, mehr schwitzen
- "Zurückgelegte Schritte in einem Jahr: 2'109'241"

"Tipp an alle Velofahrenden"
Lieber Peter, ich wusste schon längst, dass du ein sympathischer und netter Mitmensch bist. ;-) Und eigentlich finde ich, alle Velofahrenden müssten mal einen Monat nur zu Fuss gehen, damit sie es spüren, hören, fühlen, miterleben, wie es ist, wenn man als Zufussgehende auf dem Trottoir oder auf den Zebrastreifen oder, oder... bedrängt wird.
Das mit den Autofahrenden stimmt in der Tat und auch ich bedanke mich immer sehr. Als ich unlängst selber hinter dem Steuer sass und dem Mitmenschen am Trottoirrand ein Handzeichen gab, hörte ich mich brummen "er könnte auch danke sagen!". Seitenwechsel: eine Strategie zum Öffenen der Augen!
Beatrice Isler, Basel
"Genugtuung für viele Autofahrer"
Das ist ein richtig schöner Bericht. Ich empfinde es als eine Genugtuung für die vielen Autofahrer, mich eingeschlossen, welche effektiv gerne den Fussgänger über den Streifen gehen lassen und das auch noch mit einer netten Geste zurück bekommen.
Das ist leider bei den vielen Velokämpfern nicht der Fall. Hier geht es nur darum, wer noch gefährlicher vor dem Fussgänger, also auch vielfach mir, sich durchjonglieren kann.
Lukas Schaub, Birsfelden
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