© Foto by OnlineReports.ch
"Dignitas"-Chef Minelli rechnet mit den Medien ab
Basel, 3. März 2011
Er ist zwar in die Jahre gekommen, aber an der Art, wie er sich prononciert und provokant zu Wort meldet, ist er ganz der Junge geblieben: Ludwig A. Minelli (78), früherer Journalist und späterer Anwalt, seit Jahren landesweit bekannt als streitbarer Gründer und Generalsekretär der Sterbehilfe-Organisation "Dignitas". Heute Donnerstagabend trat der Zürcher Oberländer, stilgerecht eine silberne Blaggedde am Revers, in der Reihe "Wohin treibt die Schweiz?"* im Basler Schauspielhaus auf, um "von der informierten Demokratie zur geschwätzigen Republik" zu berichten.
Ausschau nach der täglichen Sau
In seinem einstündigen Referat rechnete Minelli mit den heutigen Schweizer Informationsmedien gehörig ab. Denn er – und da ist er nicht allein – sieht den demokratischen Diskurs und die solide freie Meinungsbildung akut bedroht: Die Medien verkürzen, vergröbern, verführen, verzerren, verfälschen. Recherchen, wie Minellli sie als erster Schweizer "Spiegel"-Korrespondent und und Freier Journalist anstellte – ein Besuch bei "Feldschlösschen" und dann einer bei "Denner"-Chef Karl Schweri, seinem späteren Auftraggeber – könnten die Medien "aus wirtschaftlichen Gründen" nicht mehr durchführen. Damals, zu Zeiten von Politphilosoph Arnold Künzli oder den NZ- und späteren BaZ-Redaktoren Alfred Peter, Manuel Isler und Werner Meier sowie "Basler Nachrichten"-Chef Peter Dürrenmatt, sei eine "weitaus bessere Qualität" gepflegt worden.
Und dann diese damalige Zeitungsvielfalt! "National-Zeitung", "Basler Nachrichten", "Basler AZ" und das katholische "Basler Volksblatt", das Minelli nicht erwähnte: Sie waren Teil der "informierten Demokratie" Schweiz. Und heute? Alle bekamen sie ihr Fett ab: Das Schweizer Fernsehen ("Information als Kurzfutter", "Fussballresultate vorhersagende Kraken"), die Bezahlzeitungen ("Frontseite von 'Basler Zeitung', 'Tages-Anzeiger' und 'Berner Zeitung' sehen gleich aus"), die Pendlerzeitungen ("Industrieware mit Verfalldatum von gestern"), die Lokalradios ("sie plärren den Aether voll"). Auch Minellis OnlineReports-Ferndiagnose fiel ambivalent aus ("brillant, aber zweifelhafte politische Relevanz im Vergleich zur BaZ").
Medienschaffende hielten es heute "für ihre wichtigste nationale öffentliche Aufgabe, Tag für Tag vorweigend nach einer Sau Ausschau zu halten, die sie durch die Gassen des Mediendorfes treiben können".
Klug, witzig, schlitzohrig
Die mehr als zehn A4-Seiten weitgehend auswendig und auf der Bühne spazierend vortragend, wandte sich Minelli sodann, genussvoll parlierend, dem Mode-Müll des Journalisten-Vokabulars ("Quantensprung", "shooting star") zu, bevor sich der "Dignitas"-Chef seinem wirklichen Spezialthema widmete: Einem nicht ganz werbefreien Exkurs ins Exit-Wesen. Je länger der Abend, desto mehr mäanderte die Diskussion, geleitet vom "Zeit"-Journalisten Peer Teuwsen, zwischen Verluderungs-Medien und Freitod, Zahnpflegeversicherung und Vatikan.
Immer hatte Minelli eine kluge oder witzige, schlitzohrige oder schlaumeierische Antwort parat. Aus seinem Erfahrungs-, Erlebnis- und Zitatefundus schöpfte der Unterhaltungskünstler so reichlich, dass er, einmal in Fahrt, und das ist er immer noch schnell, kaum zu bremsen war. Dabei verlangte der in seiner Wortwahl nicht zimperliche Anwalt für Minderheiten und frühere Geschäftsführer der Journalisten-Gewerkschaft SJU von den Gerichten viel schärfere Strafen bei Persönlichkeitsschutz-Verletzungen durch die Fertigmacher-Medien: Beispielsweise einen Franken Busse pro verkauftes Zeitungsexemplar. "Dann würden die Verleger wieder ein halbes Auge auf die Inhalte werfen."
Recherche wäre noch optimierungsfähig
Dass Ludwig A. Minelli die Pauschalisierung als Trendsignal der feinen Differenzierung vorzieht, ist bekannt. Doch zumindest in der Detail-Präzision hätte dem Referat des Einzelkämpfers eine sorgfältige Überprüfung nicht geschadet. Die Auflage der "Basler Zeitung" gab er um mindestens 10'000 Exemplare zu hoch an, den Tamedia-Präsidenten Pietro Supino degradierte er zum CEO. In die Tiefe ging er in seinem Referat nicht, mit neuen Erkenntnissen wartete er nicht auf, sondern bedient sich genau jener Mittel, die er dem Journalismus vorwirft: Er verkürzte und spitzte zu. Sein Sendungsbewusstsein ist ungebrochen.
Das recht spärliche Publikum lauschte Minellis Ausführungen bis zum Schluss gespannt, wobei die Sterbehilfe mehr Interesse zu wecken schien als die Medienentwicklung.
* veranstaltet durch das Theater Basel und die Wochenzeitung "Die Zeit"