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"Die Nachbarin rief die Polizei": Gewaltschützerinnen Ferel, Schweizer, Rudin
Kathrin Schweizer will potenzielle Gewaltopfer besser schützen
Folge der gesellschaftlichen Verrohung: Der Stellenbestand für Prävention und Gewaltschutz soll mehr als verdoppelt werden
Von Peter Knechtli
Die gesellschaftliche Verrohung stellt die Behörden vor grosse Herausforderungen: Die Baselbieter Sicherheitsdirektorin und Regierungspräsidentin Kathrin Schweizer will mit neuen "Gewaltschutz"-Dienst den bisherigen Stellenbestand bis 2024 mehr als verdoppeln. Er soll überall dort helfen, wo Gefahr durch physische und psychische Gewalt droht.
Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, erkennt die Indizien einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in einer immer tieferen Hemmschwelle bei der Anwendung oder Androhung von Gewalt und auch dem fehlenden Respekt vor öffentlichem Personal äussert – sei es auf kantonaler oder kommunaler Ebene.
Sensibel sind Bereiche wie Polizei, Betreibungsämter, Steuer- und Migrationsbehörden, aber auch Gemeindeverwaltungen, auf denen auch schon bedrohlich gepoltert wurde.
Der "Fall Leibacher"
Kein Ereignis dokumentiert die diffuse Radikalisierung in der Schweiz besser als der bekannte Fall in Zug, wo Friedrich Leibacher am 14. September 2001 bewaffnet in die Sitzung des Kantonsrates eindrang und 14 Politikerinnen und Politiker erschoss.
Seit jenem Drama begannen öffentlich zugängliche Institutionen, ihr Personal durch Kontrollen, physische Schranken oder Einschränkungen bei Kontaktversuchen besser zu schützen. Auch der bevorstehende Umbau des Baselbieter Regierungsgebäudes wird in nicht geringem Mass von solchen Überlegungen geleitet.
Beispiel Renitenz gegen Polizei
So bestätigte der Baselbieter Polizeisprecher Adrian Gaugler heute Morgen an einer Medienkonferenz in Liestal, dass Unsicherheit und Ängste in der Bevölkerung der Polizei die Durchsetzung von Massnahmen durch vermehrte Renitenz erschwert hätten.
Grosses Gewaltpotenzial, das die Behörden naturgemäss nicht statistisch präzise benennen können, besteht auch im familiären Umfeld – insbesondere zwischen zwei sogenannten Intim-Partnern, aber auch zwischen Eltern und Kindern oder gar zwischen Kindern.
Bedrohungsfälle in fünf Jahren verdreifacht
Sarah Rudin, Co-Leiterin des polizeilichen Dienstes "Gewaltschutz", lieferte auf die OnlineReports-Frage hin einen Zahlenvergleich: Ende 2017 waren innerhalb des kantonalen Bedrohungs-Managements 61 offene Fälle registriert, derzeit sind es 200 laufende Fälle – eine Verdreifachung. Davon betreffen rund 40 Fälle häusliche Gewalt vor allem von Männern an Frauen, seltener auch umgekehrt.
Regierungspräsidentin und Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer (SP) stellte heute Mittwochmorgen zusammen mit Sarah Rudin und Alexa Ferel den neu strukturierten Baselbieter Gewaltschutz vor. Der neue Dienst besteht aus den vier Fachbereichen Bedrohungs-Management, Radikalisierung und Extremismus, Häusliche Gewalt und dem noch aufzubauenden Opferschutz (beide beim Amt für Justizvollzug angesiedelt).
Von einer auf 5,5 Stellen
Der staatliche Umgang mit gesellschaftlicher Bedrohung im Baselbiet geht zurück auf das Jahr 2014, als eine Vollzeitstelle genügen musste. Derzeit sind es 2,5 Stellen. Bis 2024 sollen weitere drei Stellen hinzukommen. Seit 2020 ist das Bedrohungs-Management bei der Polizei angesiedelt, sowohl die Fälle wie die Anforderungen an die staatlichen Akteure nehmen laufend zu.
Alexa Ferel und Sarah Rudin schilderten den Medien anhand eines realistischen Fallbeispiels ("Die Nachbarin rief die Polizei, jetzt ist Frau P. im Spital") das feinziselierte Netzwerk, das in Gang gesetzt wird, wenn ein Mann seine Frau im Verlauf einer sich verschlechternden Beziehung mit Herabsetzung, später mit Schlägen bedroht oder im Extremfall mit der Tötung droht, falls sie ihn verlässt. Das Problem besteht im Kern darin, dass sich betroffene Frauen aus Angst und Scham nicht trauen, Hilfe und Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen.
Einfachere Identifizierung von Gefährdern
Die Professionalisierung des kantonalen Bedrohungs-Managements steht aber nicht nur der gewaltbetroffenen Person mit Schutzmassnahmen verschiedener Grade bei. Auch der Täter oder die Täterin gerät in den Fokus staatlicher Stellen, sei es in Form von Aufklärung, therapeutischer Behandlung, Annäherungsverboten, psychiatrischer Begutachtung oder letztlich der Anordnung von Haft durch das Zwangsmassnahmengericht.
Die kantonsinterne fachliche Vernetzung durch die involvierten Stellen führt auch dazu, dass aktenkundige Gewalttätige einfacher als Gefährder identifiziert werden können, wenn sie Amokläufe ankündigen oder mit Waffen prahlen. Dazu trägt auch bei, wenn Gewaltbetroffene die Scham ablegen und Hilfe beim staatlichen Gewaltschutz suchen.
Diese Hilfe ist vielfältig und geht vom einfachen ersten Gespräch über polizeiliche Begleitung bis hin zu einem vorübergehenden Platz in einem Frauenhaus, wenn der Mann gegen alle Auflagen verstösst.
Schutzplätze verdoppelt
Baselland hat die Zahl der Schutzplätze in den Frauenhäusern vor knapp zwei Jahren verdoppelt – nicht zuletzt deshalb, weil auch Kinder oft Opfer häuslicher Übergriffe werden.
Regierungsrätin Kathrin Schweizer schuf den neuen Gewaltschutzdienst mit seinen 5,5 Stellen nicht nur freiwillig. Er ist auch Folge sowohl der Nationalen Aktionspläne zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus wie auch der Umsetzung der sogenannten "Istanbul-Konvention" zum Schutz der Opfer häuslicher Gewalt.
Den drei auftretenden Frauen ist sehr bewusst, dass sie mit ihrem Support nur Feuerwehrarbeit leisten und die gesellschaftlichen Ursachen von immer hemmungsloserer Gewaltanwendung tiefer liegen.
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9. November 2022