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Will an integrativem Schulmodell festhalten: Conradin Cramer.
Integrative Schule in Basel: Cramer will Fördergruppen statt Förderklassen
Die Basler Regierung kommt den Lehrkräften einen Schritt entgegen, lehnt einen komplett separierten Unterricht aber weiterhin ab. Was bedeutet das für die hängige Initiative?
Von Alessandra Paone
Die Basler Lehrerinnen und Lehrer haben mit ihrer Kritik an der integrativen Schule und ihrer Forderung, wieder einen separierten Unterricht zu ermöglichen, schweizweit Aufmerksamkeit erlangt. Ihre Förderklassen-Initiative, die Teile der Lehrkräfte vor knapp zwei Jahren lanciert haben, führte dazu, dass in manchen Kantonen über die Wiedereinführung von sogenannten Kleinklassen diskutiert wurde.
In Basel-Stadt bewirkte der Protest einen Meinungsumschwung des Erziehungsdirektors Conradin Cramer. Lange hat dieser die integrative Schule in der aktuellen Form verteidigt und eine Rückkehr zum separativen Schulmodell dezidiert abgelehnt. Mit den Auswirkungen von Corona und dem Krieg in der Ukraine hat sich die Situation an den Basler Schulen derart zugespitzt, dass sich der LDP-Regierungsrat wohl gezwungen sah, einen Schritt auf die überlasteten Lehrerinnen und Lehrer zuzugehen.
Nach einer Konsultation mit den betroffenen Fachkreisen präsentiert Cramer nun am Mittwoch einen Gegenvorschlag zur Initiative; er nennt es ein Massnahmenpaket "zur Verbesserung der integrativen Schule". Dieses kostet jährlich 13,7 Millionen Franken.
Gruppen à zwölf Kinder
Konkret sollen auf Primarstufe kleine Fördergruppen für maximal zwölf Kinder geschaffen werden. Diese richten sich an Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer "intellektuellen Ressourcen" Schwierigkeiten beim Lernen haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Initiative, die nicht Fördergruppen, sondern Förderklassen verlangt.
Roland Stark ist pensionierter Heilpädagoge und Mitglied des Initiativkomitees. Er sagt: "Aus heilpädagogischer Sicht sind Fördergruppen sicher nicht die Lösung des Problems." Zwar stelle diese Massnahme wohl für einen grossen Teil der Lehrkräfte eine Entlastung dar, weil die "Störenfriede" dann eine Weile weg seien. "Aber wenn die Kinder zurückkommen, sind sie immer noch dieselben." Natürlich machten sie gewisse Fortschritte. Der Fördereffekt sei aber deutlich grösser, wenn die Kinder über eine längere Zeit von heilpädagogischen Lehrpersonen in separaten Klassen unterrichtet werden.
Für schwierige Situationen schlägt Cramer zudem Lerninseln vor. Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler auf Primar- und Sekundarstufe I mit akut auffälligem Verhalten, die den Unterricht massiv stören oder eine Auszeit benötigen. Das Ziel sei, dass diese Kinder jeweils möglichst schnell wieder in ihre Stammklasse zurückkehren, heisst es im Communiqué.
Mehr Ressourcen für Psychomotorik
Der Vorschlag der Regierung beinhaltet auch einen Ausbau der bestehenden Spezialangebote für Kinder "mit massiv erhöhtem Förderbedarf". Geplant ist ein "Spezialangebot plus" für Schülerinnen und Schüler mit selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten.
Schliesslich will die Regierung auch die Ressourcen für die Psychomotorik erhöhen. In den vergangenen Jahren habe sich ein erhöhter Bedarf an Förderung in diesem Bereich wie auch in der Logopädie abgezeichnet, schreibt das Erziehungsdepartement.
Die Freiwillige Schulsynode (FSS), die gewerkschaftliche Vertretung der Basler Lehrpersonen, hat die Förderklassen-Initiative tatkräftig unterstützt. Deren Präsident Jean-Michel Héritier begrüsst die Bemühungen der Regierung. Der Gegenvorschlag nehme viele Punkte der Initiative auf, sagt er. Dass aber Fördergruppen statt -klassen eingeführt werden sollen, sei ein "heikler Punkt", über den man noch einmal diskutieren müsse.
Rückzug der Initiative noch offen
Héritier stört sich auch daran, dass die Fördergruppen nur auf Primarstufe eingeführt werden sollen. "Einige Sek-Lehrpersonen haben verunsichert reagiert, weil sie befürchten, dass es bei ihnen keine Verbesserung geben wird – obwohl eine solche dringend nötig wäre", sagt er. Ob die FSS weiterhin die Initiative unterstützen oder auf den Gegenvorschlag umschwenken wird, kann Héritier zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.
Auch Initiativkomitee-Mitglied Roland Stark hält es jetzt noch für verfrüht, über einen allfälligen Rückzug der Initiative zu sprechen. Man müsse zuerst die Beratungen im Grossen Rat abwarten, sagt er. Selbst wenn Cramer mit diesem Massnahmenpaket "einen Sprung" gemacht habe.
Die Regierung strebe eine möglichst rasche Umsetzung an, heisst es im Communiqué. Die nötigen Gesetzesänderungen sollen auf das Schuljahr 2024/25 hin in Kraft treten. Damit könnten erste Massnahmen bereits nächsten Sommer in Angriff genommen werden.
25. Oktober 2023
"Muss das Notensystem verlassen können"
Die Schule würde auch nach den neuen Vorstellungen keine integrative Schule werden! Die Basis einer integrativen Schule ist die Förderung der Gemeinschaft. Solange die Schule die Leistungen ihrer Schüler:innen vergleichend bewertet, ist eine Integration unmöglich! Die verschiedenen Gremien können noch über Jahrzehnte an dieser Schule herumschrauben. Es wird dadurch nie eine Integration möglich werden. Denn eine organisatorische Integration ist noch lange keine Integration.
Eine Schule, die dies ermöglichen will, muss das Notensystem verlassen können. Nur so ist eine individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes möglich. Weniger leistungsstarke Schüler:innen werden mit jeder Prüfung ausgegrenzt. Sie verlieren an Selbstwertgefühl. Da können die besten Lehrkräfte nicht dagegen ankommen, denn gerade sie sind gezwungen, die Kinder mit dem Festschreiben ihrer Schwächen durch Noten blosszustellen!
Im Kleinen und Stillen soll begonnen werden. Beispielsweise kann dazu die Teilautonomie der Schulhäuser genutzt werden. Es können "Laborschulen" gestartet werden, in denen die alten pädagogischen Ansätze (Pestalozzi 1746 - 1827 lässt grüssen), neu erprobt werden können. Nach ein paar Jahren sollen sie von Fachwissenschaftler:innen evaluiert werden. Das ergibt eine Schulentwicklung von heute.
Mut zur Veränderung braucht die Schule dringend!
Viktor Krummenacher, Bottmingen
"Mit Gleichmacherei radikal aufhören"
Immer mehr Menschen erleben sich nach dem Motto "Konkurrenz belebt das Geschäft ... und mit Verlusten muss gerechnet werden" als Verlierer. Schulen mit Rennbahnpädagogik und Wettbewerb à la PISA können zwangsläufig für viele Schülerinnen und Schüler nicht tragfähig sein: Sie werden aggressiv oder depressiv.
Eigentlich hätte dies schon vor mehr als zehn Jahren bei der Einführung der sogenannten Integrativen Schule gewusst werden können. So ist sie ein grundsätzlich falsches Bildungssystem geworden: Sozusagen ein integrativer Etikettenschwindel, der auch mit Kosmetik wie beispielsweise Kleinklassen oder Fördergruppen keine Zukunft haben kann.
Damit es wahrhaftig und wirklich etwas werden kann, braucht es den Mut, mit falschen Dingen wie der Gleichmacherei in Jahrgangsklassen und dem Schulbesuchszwang radikal aufzuhören. Erst dann wird Raum frei für existenziell wertvoll Neues, das es sowohl individuell als auch sozial für ein friedvolles und gutes Leben für alle unabdingbar braucht. Bildung ist grundlegend ein markant wichtiger Teil davon.
Ueli Keller, Allschwil
"Rückkehr zu starren Kleinklassen darf es nicht geben"
Der Erziehungsdirektor des Kantons Basel Stadt reagiert auf die schwierige Situation der integrativen Schule in Basel. Endlich – und hoffentlich nicht zu spät.
Medial, aber auch in Fachkreisen wird seit längerem intensiv über die integrative Schule diskutiert. Einig sind sich die meisten Fachleute und Bildungspolitiker und -politikerinnen, dass das Konzept dringend verbessert werden muss. Es braucht spezielle Gefässe und Settings, um beeinträchtigte Kinder besser und zielgerichteter fördern zu können. Es ist höchste Zeit, dass die integrative Schule gestärkt wird und die Lehrpersonen wirksam entlastet.
Die präsentierten Vorschläge entsprechen teilweise dem Konzept, das im Kanton Bern mit Erfolg angewandt wird. Ich bin Gemeinderat in meiner Wohnsitzgemeinde und für die Bildung zuständig. Die integrative Schule wird bei uns erfolgreich umgesetzt. Der Erfolg basiert unter anderem auf den Instrumenten, die vom Erziehungsdepartement Basel vorgeschlagen werden.
Es ist zu hoffen, dass die "Förderklasseninitiative" zurückgezogen wird. Eine Rückkehr zu starren Kleinklassen darf es nicht geben. Ich gehöre der Generation an, die dieses unsägliche System erlebt hat. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler wurden systematisch diskriminiert und ausgegrenzt. Es ist wohl auch nicht zufällig, dass ein grosser Teil der Kinder mit Migrationshintergrund in diesen Klassen unterrichtet wurde.
Ich unterstelle niemandem, bewusst zu diesen Zuständen zurück zu wollen. Das Risiko, dass es schleichend wieder zu einem diskriminierenden, ausgrenzenden System kommt, ist aus meiner Sicht und Erfahrung erheblich. Es konnte mir von den Befürworterinnen und Befürwortern der Separation noch nie jemand erklären, wie dieses Risiko ausgeschlossen oder zumindest beherrscht werden kann.
Im Artikel wird der ehemalige Heilpädagoge Roland Stark zitiert. Er bezeichnet beeinträchtige Schülerinnen und Schüler als "Störenfriede". Diese Ausdrucksweise ist inakzeptabel und diffamierend, aber wohl auch typisch für die Gegnerinnen und Gegner der Integration.
Thomas Zysset, Bolligen