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"Es trifft eine Frau": Meinungsbildende Schlagzeile
Der kollektive Abwahl-Fokus auf Sarah Wyss war ein Medien-Versagen
Seit Monaten schon weggeschrieben, glänzt die Basler SP-Nationalrätin mit einem Spitzenergebnis: Ein beispielhafter Fall von medialer Fehlbeurteilung und journalistischem Schwarm-Verhalten. Der Kommentar.
Von Peter Knechtli
Wenn fünf Bisherige für vier Sitze kandidieren, steht mit Sicherheit eines fest: Eine oder einer fliegt raus. So unerbittlich sind demokratische Prozesse, und so gnadenlos sind Abwahlen für die Betroffenen. Bis die amtlichen Endergebnisse vorliegen, steht aber nicht fest, wen das Schicksal trifft.
Im Falle der Basler Nationalratswahlen stellten sich alle fünf Amtsinhabenden zur Wiederwahl: Sibel Arslan (Grüne/Basta), Mustafa Atici (SP), Katja Christ (Grünliberale), Patricia von Falkenstein (LDP) und Sarah Wyss (SP). Weil Basel-Stadt aber wegen des helvetischen Bevölkerungs-Proporzes künftig nur noch vier Mitglieder in die Grosse Kammer delegieren darf, musste eine dieser Personen über die Klinge springen. Unausweichliche Folge: Das grosse Bangen und Bibbern.
Es liegt bei einer solch dramatischen Ausgangslage auf der Hand, dass in der öffentlichen Debatte im Vorfeld der Wahlen die Frage nach der unausweichlichen Abwahl den höchsten Stellenwert erlangt: Eine brisantere Konstellation als eine sichere Abwahl ist kaum vorstellbar. Umso üppiger schiessen die Mutmassungen ins Kraut, für wen es das nun in "Bern" gewesen sein könnte.
Für die Medien, die sich gern – und nicht selten mit Berechtigung – über "langweilige Wahlkämpfe" mokieren, ist das ein gefundenes Fressen. Sie sind in der Küche der Meinungsmacher die bestimmenden Köche, die für ihr Publikum im Wurstkessel der Politik rühren, würzen und anrichten. Es ist die Personalisierung der Politik in ihrer reinsten Form. Reiner geht gar nicht: Daumen hoch oder Daumen runter.
Behauptung: Eine Frau wird gehen müssen,
vorzugsweise Sarah Wyss.
Dieses Jahr gaben die veröffentlichten Meinungen schon Monate vor der Wahl den Trend vor: Eine Frau wird gehen müssen, vorzugsweise Sarah Wyss. In den lokalen Medien führte eine Mixtur von redaktionellen Rankings, Berechnungen und Leserbefragungen zu dieser Prognose, von der sich rasch auch weitere überregionale Titel anstecken liessen. Dabei blieb die Möglichkeit, dass auch eine andere Kandidatin oder ein anderer Kandidat betroffen sein könnte, teilweise zu wenig berücksichtigt.
Journalisten, die sich sonst gern auf Unbestechlichkeit und Souveränität berufen, werden so zum Multiplikator von Annahmen, die andere zuvor in die Welt gesetzt haben.
Deutungshoheit in der Themensetzung erlangen in der Regel jene Meinungsmacher, die den Personen-Poker als Erste lanciert haben – Plausibilität hin oder her. Ihnen winkt Genugtuung, wenn ihre Prognose Kreise zieht und sich medial verselbständigt, und (im besten Fall) der Stolz darüber, die Volksmeinung früh richtig eingeschätzt zu haben.
Ja, manchmal sind Medienschaffende aber auch reine Waschweiber, die behauptete Trends unbekümmert übernehmen und weitergeben, was ihnen andere eingeflüstert haben. X, TikTok und Instagram haben im traditionellen journalistischen Handwerk ihre Spuren schon hinterlassen. Der Ticker-Stil hält Einzug und begünstigt, dass eine Update-Spekulation im Minutentakt die vorangehende ersetzt. Die Halbwertszeit einer Instant-Information sinkt nahe Null.
Das war latent auch vergangenen Sonntag im Basler Wahl- und Medienzentrum spürbar, wo das Getuschel anfänglich auf Sarah Wyss als Verliererin setzte. Doch plötzlich setzte Hektik ein, als ein Kommentator den Namen von Sibel Arslan ins Spiel brachte.

Wie Phönix aus der Asche: Siegerin Sarah Wyss
Nachdem eine Regionalzeitung noch acht Tage vor den Wahlen in grossen Lettern die suggestive Schlagzeile "Drei Frauen, zwei Sitze, ein Schicksal" erfunden hatte, war der Fokus definitiv auf Frauen gerichtet: Wyss, Arslan oder Christ. LDP-Volksvertreterin von Falkenstein konnte sich dank der breiten bürgerlichen Listenverbindung dem Verliererinnen-Risiko entspannt entziehen.
Nur den einzigen Mann auf der Liste der Abwahl-Gefährdeten hatte niemand auf dem Ticker: Mustafa Atici. Er galt als gesetzt.
Als jedoch Staatsschreiberin Barbara Schüpbach am Abend die gültigen Erlebnisse verlas und Atici das Verdikt des Abgewählten traf, dürften sich einige Prognostiker käsebleich gefühlt haben. Denn es war alles ganz anders gekommen. Verliererinnen-Liebling Wyss entpuppte sich als die wahre Siegerin dieser Wahlen: Sie erzielte mit riesigem Abstand das beste Ergebnis aller Kandidierenden – mehr als Arslan und Christ zusammen.
Die redaktionell weggeschriebene Sozialdemokratin stellte damit nicht nur alle vier Mitbewerbenden in den Schatten, sondern geichzeitig jene Medienschaffenden bloss, die sich an ihr bereits die sexy Schicksals-Story zurechtgelegt hatten.
Der kollektive Abwahl-Fokus auf Sarah Wyss war ein Medien-Versagen. Wenig überraschend blieb unter den Auguren bisher eine selbstkritische Reflexion ebenso aus wie das Eingeständnis einer Fehlbeurteilung.
Sarah Wyss erlebte das Gegenteil dessen,
was Eva Herzog widerfuhr.
Es kann fraglos nicht die Aufgabe der Medien sein, ihre Berichterstattung nach der jeweiligen Befindlichkeit der Akteure zu kalibrieren. Die Spekulation über wichtige Personalentscheide gehört zu den grundlegenden Bewertungs-Aufgaben der politischen Information.
Genauso aber sollte das spekulative Wyss-Wegschreiben für uns Medienschaffende Anlass sein, unsere Rolle in Hoch-Zeiten der Wahlbarometer und Stimmungsseismologen zu überdenken und uns letztlich auf die eigenständig erarbeitete Plausibilität zu verpflichten. Noch so viel Kaffeesatzlesen kann gesicherte Fakten nicht aufwiegen.
Nicht alle Politik-Aktiven können mit einer Situation im Hamsterrad des Abwahl-Stigmas und der Perspektive des Bedeutungsverlusts locker umgehen. Sarah Wyss schon gar nicht.
Die Anfrage eines Mediums, sie an ihrem vermeintlichen Schicksalstag zu begleiten, lehnte sie ab. In ihrer Verunsicherung wollte sie auch Pressebilder vermeiden, die ihren heulenden Abgang von der politischen Bühne in der Unendlichkeit des digitalen Orbits verewigen. Statt im Wahlzentrum zu verharren, versuchte sie sich am Nachmittag des Wahlsonntags bei einem Zolli-Besuch mit ihrem Göttibub vom anscheinend drohenden Unheil abzulenken. Handy auf Flug-Modus gestellt.
Im aufreibenden Wahlkampf hatte sie durch Medienschaffende eine Spur von Belagerung wahrgenommen, die Interesse an einer möglichen Niederlage erkennen liess – kaum aber an ihrer Leistung, die sie in ihren knapp drei Nationalrats-Jahren als Vizepräsidentin der Finanzkommission und als profilierte Gesundheitspolitikerin nachweisen kann. Und jetzt das Glanzresultat!
Sarah Wyss hat am Wochenende genau das Gegenteil dessen erlebt, was ihrer Basler Parteikollegin Eva Herzog vergangenen Dezember widerfuhr: Die SP-Ständerätin wurde zur "Kronfavoritin" der Bundesratswahlen heraufgeschrieben. Und dann scheiterte sie in der Wahl. Wie toxisch das mediale Attribut "Favorit" in der realen Politik wirken kann, dessen dürfte sich auch der Basler Regierungspräsident Beat Jans (SP) nach seiner einstimmigen Nomination als Kandidat zur Nachfolge von Bundesrat Alain Berset bewusst sein.
Für Sarah Wyss dürfte die Nationalrats-Wahl 2023 unvergesslich sein. Ihr Spitzenresultat war wie eine Mahnung an jene, die sie schon aufgegeben hatten. Am Schluss könnten sie mit ihrem Schwarm-Verhalten zum Wahlerfolg beigetragen haben, indem sie zu einer Mobilisierung zugunsten der Weggeschriebenen beitrugen. Das wäre dann kein Schicksal, sondern die perfekte Ironie davon.
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27. Oktober 2023
Weiterführende Links:
"Von Aarau und Zürich?"
Woher kommen die zwei wichtigsten "Presseerzeugnisse" in Basel? Von Aarau und Zürich? Alles klar!
Bruno Heuberger, Oberwil
"Fakten sind ausführlich zu beschreiben"
Mir stösst es sauer auf, wenn die Medien im Vorfeld von Wahlen ihre Prophezeiungen abgeben. Warum wird das gemacht? In einer seriösen Demokratie sollte dies verboten sein. Erlaubt und zur Meinungsbildung nötig wäre jedoch das Beschreiben der politischen Taten und Auffassungen der Kandidierenden. Ebenfalls gehört das Prophezeien der Veränderungen der Parteienstärke ins selbe Kapitel. Fakten sind ausführlich zu beschreiben.
Viktor Krummenacher, Bottmingen
"Vermag der Situation nicht gerecht zu werden"
Dieser Kommentar scheint mir sprachlich extrem eloquent und süffig. Er vermag aber grundsätzlich der Situation nicht gerecht zu werden. Wie dies leider auch den sogenannten Leitmedien entspricht. Denn: Wer beispielsweise Nationalrätin oder Nationalrat ist oder wird, ist für die Politik in etwa so matchentscheidend wie für den FC Basel, wer der nächste Trainer werden wird.
Ueli Keller, Allschwil
"Auf Sachfragen beschränkt"
Wieder mal treffend, Herr Knechtli. Im Kern muss man festhalten, dass Vorhersagen durch die Medien – sei es auf der Basis von Umfragen oder Kaffeesatzlesen – politisch schädlich ist. Eine ungehörige Beeinflussung der Wahlen.
Mir scheint, dass das besonders in unserem Nachbarland Deutschland verheerend ist, wo meist schon zwei Jahre vor der Wahl der "Kanzlerkandidat" nachdrücklich gefordert wird. Dabei gibt es den gar nicht wirklich – ein reines Konstrukt der Medien, die damit weiten Kreisen der deutschen Wähler fälschlicherweise vermitteln, dass sie den Kanzler wählen. Nicht ein politisches Programm, schon gar nicht im Hinblick auf inzwischen übliche Koalitionen.
Gemessen daran ist der ungehörige Medieneinfluss in der Schweiz noch harmlos, aber es wäre wünschenswert, wenn die Berichterstattung sachlicher – auf Sachfragen beschränkt – würde, weniger bezogen auf emotionale Nebenerscheinungen und "Sensationen".
Peter Waldner, Basel
"Etwas mehr Demut"
Lieber Peter Knechtli, wieder einmal sprechen Sie mir aus dem Herzen! Ich habe mich schon während des ganzen "Medien-Versagens" (Ihre zutreffenden Worte) über die pharisäerhafte Schwarm-Haltung vieler Medienschaffender geärgert. Und dies betraf übrigens nicht nur Sarah Wyss und den Kanton Basel-Stadt; im anderen Halbkanton wurde über den angeblich wackelnden Sitz von Samira Marti schwadroniert, und sie erzielte bekanntlich ungefährdet und nur wenig hinter Eric Nussbaumer das sehr schöne zweitbeste Wahlresultat. Man tut (oder täte) gut daran, etwas mehr Demut zu zeigen und erst mal ein Wahlergebnis abzuwarten …
Florian Suter, Basel