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Lehrkräfte beklagen eine zu hohe Sitzungsdichte.
Sind die Basler Schulen mit ihren Freiheiten überfordert?
GLP-Grossrätin Sandra Bothe stellt zur Debatte, die Eigenständigkeit der Schulen stärker einzuschränken – damit mehr Ressourcen für den Unterricht bleiben. Lehrkraft-Vertreter Jean-Michel Héritier ordnet ein.
Von Jan Amsler und Alessandra Paone
Wie gehen wir mit den ukrainischen Flüchtlingen in den Schulen um? Wie organisieren wir die spezielle Förderung und wie verteilen wir die Gelder, die dafür zur Verfügung stehen? Das sind nur einige der Themen, die in der Verantwortung der Schulen liegen – neben dem Unterricht, den Sitzungen und der anspruchsvollen Elternarbeit. Mit der Einführung der Teilautonomie vor über zehn Jahren haben auch die Aufgaben zugenommen. Die einzelnen Schulstandorte haben seit der Reform weitergehende Kompetenzen, sowohl in der Pädagogik als auch bei der Organisation und den Finanzen. "Stimmen denn die Grenzen der Teilautonomie?", fragt Sandra Bothe. Die grünliberale Bildungspolitikerin aus dem Basler Grossen Rat meint, hier auf eine Ursache für die vielfältigen Probleme gestossen zu sein. Den Schulen mangelt es an Lehrkräften. Das Basler Bildungssystem gehört zu den teuersten, dennoch fallen die hiesigen Schulkinder im landesweiten Vergleich in zentralen Bereichen ab. Und dann die Überforderung mit der integrativen Schule. In einem Vorstoss, den sie demnächst einreichen möchte, will Bothe von der Kantonsregierung etwa wissen, ob die Teilautonomie schon auf ihre Wirksamkeit und Auswirkungen überprüft worden sei. Denn möglicherweise überforderten die gewonnenen Freiheiten die Schulen. Sind Eigenständigkeit und Mindestvorgaben noch in der Balance?
Zu viele Sitzungen
Bothe verweist auf mehrere Stellungnahmen und Befragungen, die zum Schluss kommen, dass der Lehrberuf an Attraktivität eingebüsst hat. Die Arbeitsbedingungen verschärften den Personalmangel zusätzlich. Tatsächlich zeigt eine Umfrage zu den Belastungen im Lehrberuf, die der Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland (LVB) im Herbst 2022 durchgeführt hat, dass der Bürokratieabbau ein zentraler Wunsch der Befragten ist. Über 90 Prozent gaben an, wegen administrativer Aufgaben zu wenig Zeit für das Kerngeschäft zu haben. Die vielen Sitzungen werden ebenfalls als belastend empfunden.
Der LVB sieht die schulische Teilautonomie als einen wichtigen Grund für die "ausufernde Sitzungsdichte". Denn unter dem Oberbegriff der Teilautonomie sei jede einzelne Schule beinahe permanent damit beschäftigt, für alle erdenklichen Themen jeweils eigene Konzepte zu erarbeiten.
Schulen nicht einschränken, sondern entlasten
Bothe benennt Bereiche, die ihrer Meinung nach zentral organisiert werden könnten: "Muss sich jede einzelne Schule mit individuellen Konzepten etwa für Leseförderung, Digitalisierung, Begabtenförderung und anderen Massnahmen beschäftigen?" Würden diese übergeordneten Aufgaben auch an übergeordnete Stellen abgetreten, hätten Lehrpersonen mehr Ressourcen für den Unterricht. Auch um die Bildungsqualität und die Chancengleichheit zu sichern, sollten die verschiedenen teilautonomen Konzepte nicht zu stark voneinander abweichen, findet sie.
Sandra Bothe will die Lehrkräfte entlasten. © Foto by Grosser Rat Die Grünliberale betont, dass es nicht ihr Ziel sei, die Kompetenzen der Schulen zu beschneiden. Ihre Absicht sei, sie zu entlasten. Doch wie stehen die Basler Lehrkräfte zur Teilautonomie? Die Rückmeldungen seien mehrheitlich positiv, sagt Jean-Michel Héritier. Er ist Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel und arbeitet als Co-Klassenlehrer an einer Primarschule. Es komme aber immer auf das Thema an. Bei den Stellvertretungen etwa bevorzugten die Lehrerinnen und Lehrer eine zentrale Koordinationsstelle. "Es ist für die Schulen jeweils sehr aufwendig, sich um die Stellvertretungen kümmern zu müssen." Dasselbe gelte für Lehrpersonen, die wegen Restrukturierungen oder Krankheit ihre frühere Funktion verloren haben. Sie müssen den Wechsel zu einem anderen Standort selbst organisieren und sich entsprechend bewerben. Eine übergeordnete und intern vermittelnde Stelle, die eine Übersicht über die offenen Posten an den kantonalen Schulen hat, könnte da hilfreich sein, sagt Héritier.
Mehr Flexibilität bei der integrativen Schule
Als weiteres Beispiel nennt Héritier die verstärkten Massnahmen für Kinder mit akut auffälligem Verhalten. Die Schulen hätten dafür ein bestimmtes Kontingent, mit dem sie auskommen müssen. Sei dieses aufgebraucht, müssten sie mit anderen Schulen um die Ressourcen verhandeln. "Das ist mit der aktuell stetig steigenden Zahl an solchen Kindern eine grosse Herausforderung", sagt Héritier. Bei der integrativen Schule wünschten sich die Schulen hingegen künftig mehr Autonomie und Flexibilität, wie eine aktuelle Erhebung bei den Lehrpersonen zeige. Bothe reicht ihren Vorstoss in der Form einer schriftlichen Anfrage ein. Die Regierung muss diese innert dreier Monate beantworten. Demnächst wird im Kantonsparlament auch über den Gegenvorschlag zur sogenannten Förderklassen-Initiative diskutiert. Diese hat ebenfalls die Belastung des Lehrpersonals im Blick. Im Zentrum steht das integrative Schulsystem, das mit dem Thema der Teilautonomie eng verbunden ist – denn jede Schule entwickelt ihr eigenes Förderkonzept.
19. August 2023
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"Zu viel Fremdbestimmung"
Die Schule steckte schon immer in der Krise! Als ich vor 50 Jahren als Primarlehrer zu unterrichten begann, fand ich eine kranke Schule vor. Die Basis waren Noten, um die Schülerinnen und Schüler gefügig zu machen, damit sie das lernten, was vom Lehrmittel vorgegeben und von der Lehrperson verlangt wurde. "Wissen apportieren" hat Martin Wagenschein das treffend benannt. Kein Ansatz von Lernen aus Interesse oder Freude. Die Schule ist einer der rückständigsten Bereiche in der Gesellschaft geblieben, bis heute. All die Erkenntnisse aus Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaft konnten den alt eingefeilten Auffassungen nichts anhaben. Dieses Basiswissen, das die pädagogische Haltung beeinflussen könnte, prallt noch immer ab, resp wird nicht wahrgenommen. Warum? Wo liegt das Problem der Schule?
Als das Erziehungsdepartement Basel-Stadt anstrebte, die integrative Schule zu realisieren, dachten wir, endlich bewegt sich etwas. Vorher hatte Erziehungsdepartementvorsteher Arnold Schneider, FDP, in einer öffentlichen Rede gesagt: Alle Reformen würden wieder ihre Nachteile haben. Somit könne auf Veränderungen verzichtet werden. Christoph Eymann brachte der Schule in Basel-Stadt dann endlich zentrale Hilfsstrukturen. Am Anfang seiner Amtszeit 2001 liess er auswärts eine Befindlichkeitsstudie der Basler Lehrkräfte erstellen. Daraus ergaben sich zwei Bereiche, in denen die Lehrkräfte unterstützt werden wollten: niederschwellige Beratungsmöglicheit und eine Kriseninterventionsstelle. Das brachte grosse Entlastung. Schwierigkeiten vor allem mit der Administration und im Kollegium konnten mit einer aussenstehenden Fachperson so leicht angegangen werden. Die Kriseninterventionsstelle brachte die Möglichkeit, Hilfe ins Klassenzimmer zu holen oder einen einzelnen Schüler oder eine einzelne Schülerin für eine Zeit extern betreuen zu lassen. Das BS-Konzept der integrativen Schule war und ist nicht realisierbar. Der Widerspruch Integration und Selektion wurde nicht erkannt. Eine Integration braucht als Basis ein pädagogisches Konzept ohne Selektion, sonst kann sie nicht gelingen und bleibt eine strukturelle Integration. Die Teilautonomie der Schulhäuser brachte neue Hoffnung. Wir hofften nun auf die Entwicklung vielfältiger Schulhauskulturen, geformt und getragen durch die Hauptakteure der Schule: die Lehrerinnen und Lehrer! Daraus wurde nichts. Die Lehrerkollegien wurden hierarchisch strukturiert und so einen Teil der Verantwortung vom Kollegium an eine Schulhausleitung übergeben. Lehrerinnen und Lehrer müssen nicht so entlastet werden, wie Frau Sandra Bothe dies denkt. Was sie brauchen ist Entlastungen von zu viel Fremdbestimmung. Lehrkräfte haben einen höchst verantwortungsvollen Beruf. Keine Administration kann ihnen die abnehmen. Kollegien müssen sich zu tragfähigen Teams entwickeln können, die ihrer Aufgabe entsprechend behandelt werden müssen. Stärkung der Eigenverantwortung und Aufbau einer kommunikativen Autonomie. Die Regierung, die Politik, die Schuladministration haben ihnen eine pflegende Haltung entgegen zu bringen, damit sie ihre Kernaufgabe möglichst bildungsstark, nicht bürokratiereich erfüllen können. Wir brauchen in Zukunft Menschen mit hohem Mitverantwortungsgefühl. Ihre Lehrpersonen müssen selbst so arbeiten können. Das parteipolitische Gerangel ist der Schulentwicklung abträglich.
Viktor Krummenacher, Bottmingen
"System Schule steckt in einer Krise"
Zu wenig (qualifizierte) Lehrpersonen und zu viele (schwierige) Kinder, zu wenig (passende) Schulräume und immer noch mehr (aufwendige) Fächer, die unterrichtet werden müssen, zu viel (überflüssige) Autonomie und immer noch mehr (unergiebige) Bürokratie. Dies und leider noch viel mehr: Sind das nicht eigentlich Zeichen dafür, dass auch im Kanton Basel-Stadt das System Schule fundamental in einer Krise steckt? Auch wenn verantwortliche Systemträger insbesondere in Politik und Verwaltung sowie auch Medien dies nicht wahrhaben wollen. Werden Krisen überhaupt als solche wahrgenommen, werden sie oft überspielt. Beispielsweise mit aufwendig und grossartig inszenierten sogenannten Reformen: Sie dienen in der Regel dem Zweck, dass alles beim Alten bleiben kann. Weil scheinbar eine Mehrheit lieber am Gewohnten leidet, als Neues zu wagen. Krisen, die verdrängt werden, lassen sich auch nicht proaktiv und selbstbestimmt als Chance für einen Wandel nutzen. Dies gilt generell und grundsätzlich, sowohl individuell als auch kollektiv: lokal, regional, national und global. Hier sieben mögliche Schritte, um durch eine individuelle Krise zu gehen: 1. Eine Krise annehmen und sich ihr zuwenden. 2. Ängste und das Chaos, Ärger und Kränkungen, Ohnmacht und Wut aus dem Kopf rauslassen und aufhören zu grübeln. 3. Vergleiche mit andern loslassen. 4. Ungesunde und unzweckmässige Bewältigungs-Strategien meiden. 5. Sich auf das Drama der Krise einlassen und mit dem Herzen aus dem Drama rauskommen. 6. Dafür die Bodenhaftung, das Rückgrat und das Selbstvertrauen stärken. 7. Aufrecht und aufrichtig, wahrhaftig und wirklich in der Welt sein und den Kopf für das Licht des Himmels frei und offen halten. Aktuell beschäftigt mich speziell die Frage, wie analog einem individuell gestalteten Wandlungsprozess eine gesellschaftliche Krise, wie sie sich beispielsweise und konkret auch im Bereich Bildung bei Schulen manifestiert, angenommen und kollektiv als Chance genutzt werden kann.
Ueli Keller, Allschwil
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