© Fotos by Jan Amsler, OnlineReports.ch
-minu: "Heute ist Weihnachten laut"Das OnlineReports-Monatsgespräch: Der Basler Kolumnist und Autor über seine Familie, Aglio e Olio vor dem Fernseher und seinen innigsten Weihnachtswunsch. Von Alessandra Paone und Jan Amsler -minu, was bedeutet Weihnachten für Sie? -minu: Weihnachten war der einzige Moment im Jahr, in dem die Verwandten meiner Mutter und die meines Vaters zusammenkamen. Wir Kinder haben diese Essen geliebt, auch weil alle da waren. Sonst luden wir die beiden Familien jeweils separat ein. Ich fand auch den ganzen Zauber drumherum toll. Die Türe zum Weihnachtsbaum-Zimmer war verschlossen. Klein und Gross, rund 40 Menschen, sassen in der grossen Stube. Und als wir Kinder das Glöcklein hörten und sich daraufhin die Türe langsam öffnete, rannten wir los und waren überwältigt von diesem riesigen Baum.
Heute ist das Christkind in vielen Familien tabu … Meine Kolleginnen und Kollegen haben mir immer gesagt, ich solle mit dem Quatsch aufhören: "Wir sagen unseren Kindern, dass es weder das Weihnachtskind noch den Santiklaus gibt." Ich habe mich schon als junger Journalist gefragt, ob das richtig ist, ob sie ihre Kinder nicht um etwas berauben. Ich bin heute noch glücklich darüber, dass ich das damals in meiner Kindheit erleben durfte.
Der Baum spielt in vielen Weihnachtsgeschichten, die Sie geschrieben haben, eine wichtige Rolle. Warum? Er hat etwas Mystisches. Es ist doch eigentlich verrückt, eine Tanne mit Glimmer und Glaskugeln zu schmücken. Diese Diskrepanz zwischen purer Natur und Dekoration ist für mich Kunst und deswegen auch faszinierend. Aber das Faszinierendste sind die Kugeln und was sonst alles am Baum hängt. Jedes Stück, ob der Vogel vom Omi oder der Santiklaus auf dem Schlitten, hat seine Geschichte. Es ist, als würden die Verstorbenen mit dir sprechen. Sie sind dann alle bei dir. Wenn das jemand in seiner Jugend nicht erlebt hat, weil der Baum nur mit roten Äpfeln oder Kerzen geschmückt war, dann fehlt das alles. Und ich kann mir vorstellen, dass dann auch die Toten fehlen.
Dann gibt es also kein Weihnachten ohne Baum? Unser Baum steht oben im Weihnachtsbaum-Zimmer. Linda, unsere erste Haushälterin, hat mir gezeigt, wie man ihn schmückt. Der Baum ist seit ihrem Tod unverändert geblieben. Seit rund 30 Jahren verbringen mein Mann Christoph und ich Weihnachten auf der toskanischen Halbinsel Monte Argentario.
Allein? Ja, wir machen ein Feuer im Cheminée, setzen uns vor den Fernseher – meistens läuft Sissi oder Der kleine Lord –, die Füsse unflätig auf dem Rauchertisch, und essen Spaghetti aglio e olio. Früher, als Christoph noch nicht dement war, kochte er, jetzt koche ich.
Das Monatsgespräch wird präsentiert von Confiserie Beschle:
Vermissen Sie die grossen Familienessen nicht? Wir brauchen den ganzen Trubel nicht mehr. Ich erinnere mich aber gerne an die Weihnachtsabende in der Familie. Es prallten zwei total fremde Welten aufeinander: Mein Vater stammte aus einem Arbeitermilieu – meine Grossmutter schrubbte Böden, um die Familie durchzubringen. Mein Grossvater war Stadtgärtner und ist ziemlich früh gestorben. Die Familie meiner Mutter hingegen hatte Geld.
Das funktionierte? Es gab schon Spannungen, vor allem politisch. Mein Vater war Gewerkschafter und stand ganz klar links. Als er noch jung war, sogar linker als links. Meine Mutter gehörte den Liberalen an, sie stand eher rechts – wobei sie mit der Zeit immer mehr einmittete und am Ende linker war als mein Vater. Jedenfalls kachelte es jeweils schon zwischen den beiden Familien. Aber es wurde nie grob. Lustigerweise haben sich meine beiden Grossmütter sehr gut verstanden. Einmal sagte meine Grossmutter zu meiner Mutter: "Du hast mit deinem Alten zwar völlig daneben gegriffen, er hat aber etwas Grosses in die Ehe gebracht: seine Mutter. Sie ist die einzige in der Familie, die Herz zeigt." Und so war es. Meine Grossmutter väterlicherseits war so offen und unkompliziert. Ich habe sie heiss geliebt.
Und die andere Grossmutter? Sie hat nie Gefühle gezeigt. In den Familien mütterlicherseits war das generell so. Dort hatten die Frauen seit Generationen das Sagen. Männer waren eine Quantité négligeable. Deshalb hat meine Mutter auch meinen Vater ausgewählt – er hatte nichts zu pfeifen. Was die Familie anging, hatte sie das Zepter in der Hand. Sie hatte auch das Geld. Aber ansonsten liess sie ihm viele Freiheiten, politisch und auch bei seinen Frauengeschichten.
Sie wusste davon? Natürlich. Sie war eine sehr clevere Frau und machte alle Freundinnen meines Vaters zu ihren Freundinnen. Sie managte seine Beziehungen. Und wenn sich die eine Frau bei meiner Mutter ausheulte, weil mein Vater sie wegen der anderen vernachlässigte, wies meine Mutter ihn später zurecht. "Ich wähle Menschen, die ich kenne. SVP wähle ich aber nie, das ist mir zu gefährlich." Hatte Ihre Mutter auch Männergeschichten? Nein, das interessierte sie nicht. Sie lebte fürs Geschäft, war auch nicht unbedingt ein Familienmensch. Einmal, ich war ungefähr 20 Jahre alt, habe ich sie im Flugzeug nach New York gefragt, wieso sie sich das alles gefallen lasse und nicht die Scheidung verlange. Sie meinte, sie sei glücklich so, und ausserdem wisse sie, dass mein Vater nur sie liebe. Bei den anderen gehe es nur um Sex.
Hatte sie Recht? Als meine Mutter starb, war mein Vater verloren. Vor ihrem Tod lag sie rund zwei Jahre im Koma. Er ging jeden Tag zu ihr ins Spital. "Das bringt doch nichts, lass Mutter sterben", sagte ich zu ihm. Er antwortete: "Ich will ihr einfach sagen, dass sie die Nummer eins ist."
Ihre Mutter war bürgerlich, Ihr Vater ein Gewerkschafter – wo stehen Sie politisch? Ich ordne mich nicht in diesem klassischen Links-Rechts-Schema ein. Ich wähle jemanden aus der SP genauso wie jemanden aus der FDP oder der LDP. Ich wähle Menschen, die ich kenne. SVP wähle ich aber nie, das ist mir zu gefährlich. Bei politischen Themen stimme ich einmal links, einmal rechts, je nach Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe.
"Als würden die Verstorbenen mit dir sprechen": Im Weihnachtszimmer.
Mussten Sie als Journalist nie politisch Farbe bekennen? Ich habe nie eine Zeile über Politik geschrieben. Vor allem, weil ich gesehen habe, wie viel Dreck dran war. Auch im Journalismus. Die meisten Redaktoren bei der Nationalzeitung und später bei der Basler Zeitung gehörten einer linken Partei an und pushten deren Inhalte. Das war eine Mauschelei – von wegen Mafia in Italien. Hier läuft es doch genau gleich. Einmal habe ich aber Farbe bekannt.
Erzählen Sie … Das war bei der Schwarzenbach-Initiative. Ich war der Meinung, dass die mangelnde Toleranz gegenüber Ausländerinnen und Ausländern an der fehlenden Sensibilisierung lag. Das glaube ich heute noch. Deshalb habe ich in der Zeitung eine Serie lanciert, in der ich jeweils ausländische Familien besuchte. Ich erzählte, wie sie lebten, was sie dachten und sagten – Hausfrauenberichte eben. Die Serie hatte einen Riesenerfolg. Wir beschlossen dann, in den Sommerferien eine weitere zu machen. Sie hiess "S hed, solang s hed". Wir organisierten mit ausländischen Gruppen, die in Basel lebten, Events, an denen sie jeweils Spezialitäten aus ihrem Land kochten. Es sollte ein Austausch stattfinden zwischen den Migrantinnen und Migranten und den Daheimgebliebenen. In der Regel waren das ältere Leute, und die hatten ja bekanntlich am meisten Mühe mit den Ausländerinnen und Ausländern. "Dem lieben Gott ist Homosexualität völlig wurst." Und kamen die Leute? Und ob! Einmal kamen rund 300 Leute. Und es hatte für alle genügend zu essen.
Die Weihnachtsessen mit Ihrer Familie oder die Essen mit den Migrantengruppen – im Kern ging es ums Gleiche. Essen hat etwas Verbindendes. Und wenn man mit jemandem das Brot teilt und mit Wein anstösst, dann hat das auch etwas Versöhnliches. Das habe ich schon als Kind gespürt.
Das klingt religiös ... Ich bin viel religiöser, als man denkt.
Die Kirche, vor allem die katholische, ist nicht gerade offen gegenüber Homosexuellen. Wie vereinbaren Sie das? Für den Vatikan ist Homosexualität des Teufels. Aber nirgends wird sie so exzessiv ausgelebt wie in diesen Kreisen. Als ich an der Sprachschule Dante Alighieri in Rom studierte, hatte ich mit sehr vielen Pfarrern und Geistlichen Sex. Was natürlich eine verlogene Sauerei ist. Aber es berührt den Glauben nicht. Dem lieben Gott ist Homosexualität völlig wurst. Und Papst Franziskus, in den ich grosse Hoffnungen gesetzt hatte, kann wohl auch nicht viel machen. So funktioniert die Politik des Vatikans. Die Kirche spielt eine unrühmliche Rolle, aber nicht nur die katholische. Bei meiner Konfirmation störte sich der Pfarrer daran, dass ich schwul bin, und wollte mit meiner Mutter darüber reden. Sie stellte ihn dann vor die Tür.
-minu wohnt zusammen mit seinem Mann unweit des Spalentors.
Für Sie bedeutet Weihnachten heute Zweisamkeit. Aber wie hat sich das Fest grundsätzlich verändert? Ich höre immer den Vorwurf, es sei eine wahnsinnige Geschäftemacherei. Das ist so. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es das nicht sein darf. Für viele Menschen, vor allem für die Kinder, ist es wunderbar, wenn sie an diesem Tag Geschenke erhalten. Es gibt viele Kinder, die mit Ausnahme dieser besonderen Tage nie etwas geschenkt bekommen. Entsprechend akzeptiere ich den Konsum. Obschon es eigentlich geschmacklos ist, dass wir in einer Zeit, in der so viele Menschen hungern müssen, derart üppig leben. Handkehrum gibt man für eine Bombe so viel aus wie die Stadt für Weihnachten. Da ist es doch sinnvoller, man gibt es für Weihnachten aus.
Sie haben verschiedene Wohnsitze, unter anderem in Italien. Was aber ist charakteristisch für die Basler Weihnacht? Auch hier hat sich viel verändert. Früher war Weihnachten eine stille Sache. Als ich jeweils nach dem Posaunenkonzert beim Münster zu Fuss heimging, konnte ich beobachten, wie sich die Stadt allmählich leerte. Durch die Fenster sah ich die Bäume mit den Kerzen. Alles war sehr still. Und heute ist es laut, nicht in den Aussenquartieren, aber in der Stadt. Man spürt die Erwartung des grossen Fests nicht mehr.
Ist der zunehmende Konsum daran schuld? Der Konsum macht alles noch lauter, aber das war schon früher so. Nach Ladenschluss wurde es aber still. Ich habe diese Stille immer mit dem Moment vor dem Vier-Uhr-Schlag am Morgestraich verglichen.
Womit hat es denn zu tun? Es ist eine Generationenfrage. Die meisten Jungen sind nicht so aufgewachsen wie wir. Meine Mutter erzählte mir, wie sie nach dem Krieg als junge Frau ihre erste Schokoladentafel bekommen habe. Heute kann man das ganze Jahr alles haben; es gibt keine Steigerung mehr. Und anstatt mit der Familie am Tisch zu sitzen, machen die Jungen Party. Aber das finde ich gut. Es gibt jetzt verschiedene Arten, Weihnachten zu feiern. Dadurch ist es zwar nicht mehr still, aber wahrscheinlich ist es für die heutige Zeit richtig so. Die Jungen brauchen das, also sollen sie es haben. "Ich wünsche mir, dass Christoph und ich auf die Insel gehen können." Früher war also nicht alles besser? Nein – es war anders. Ohnehin finde ich, dass es die Jungen besser machen als wir. Sie fallen aus dem Rahmen, konzentrieren sich auf ihr Leben. Dadurch sind sie weniger rücksichtsvoll, als wir es waren. Aber ich finde es gut, dass sie die Zähne zeigen.
Hätten Sie gerne Kinder gehabt? Ja, sowohl ich als auch Christoph. Doch das war für Homosexuelle früher leider nicht möglich.
Was wünschen Sie sich dieses Jahr zu Weihnachten? Das ist eine sehr schöne Frage. Materielle Wünsche habe ich keine mehr. Ich wünsche mir, dass Christoph und ich auf die Insel gehen können. Es wäre das Höchste. Jeden zweiten Tag packt er den Koffer und sagt: "Gell, wir gehen jetzt?" Ich sage ihm dann jeweils: "Wir gehen noch nicht, aber wir werden gehen." Jetzt müssen wir nur hoffen, dass seine Werte gut sind.
Dann hoffen wir, dass Ihr Wunsch in Erfüllung geht. Wir werden wohl auch fahren, wenn die Werte nicht gut sind. Christoph ist 90. Es ist besser, er stirbt an einem Ort, an dem er glücklich ist.
OnlineReports veröffentlicht immer am ersten Samstag des Monats ein grosses Interview. Hier kommen Persönlichkeiten aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport zu Wort.
7. Dezember 2024
Hans-Peter Hammel
-minu heisst in Wahrheit Hans-Peter Hammel, ist 77 Jahre alt, lebt mit seinem Partner in Basel und auf der toskanischen Halbinsel Monte Argentario. Er ist weit über Basel hinaus für seine Kolumnen, Bücher und Fernseh-Moderationen bekannt. "Er kann es einfach" Danke dafür! -minu hat mich mein ganzes (erwachsenes) Leben irgendwie begleitet, weil er das erzählen konnte, was ich so schön mit- und nachempfinden konnte – und noch immer kann, weil ich noch einige "Mimpfeli" von ihm aus den 70er-/80er-Jahren habe. Meine Mutter hatte sie jeweils an seinem Messestand am Petersplatz für mich gekauft. Er kann es einfach – auch in diesem Interview spannt er einen treffenden, aber auch wunderbaren Bogen aus der Nachkriegs- in die Neuzeit in Basel. Peter Waldner, Basel |
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