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"Grundsätzlich unbeaufsichtigt": Strafjustizzentrum Muttenz, Seitenansicht
Ein Kreuz an die Bühne: Anklage offeriert eine Spur Medien-Glasnost
Die Baselbieter Staatsanwaltschaft erleichtert Journalisten die Einsicht in die Strafbefehle / Gerichte bleiben zu intransparent
Von Peter Knechtli
Gemessen am Transparenz-Anspruch der Demokratien ist im Baselbiet der Zugang zu Justiz-Akten für Medienschaffende noch altertümlich. Jetzt aber lässt die Staatsanwaltschaft ein bisschen Licht in ihr Dunkel: Journalisten können ab sofort Einsicht in ungeschwärzte rechtsgültige Strafbefehle nehmen – sicherheitstechnisch perfekt abgesichert.
"Sie sind der Erste, der sich angemeldet hat", begrüsst mich Thomas Lyssy, einer der Mediensprecher der Baselbieter Staatsanwaltschaft, im Strafjustizzentrum in Muttenz. Dort residieren das Strafgericht, die Anklagebehörde und ein Gefängnis.
Soeben hatte ich im Eingangsbereich den Gürtel ausgezogen, meinen Rucksack samt Laptop, meinen Kugelschreiber und mein Handy, die Armbanduhr und vielleicht ein paar Münzen ohne Beanstandung durch das Scan-Gerät passieren lassen, das durch komplette Transparenz besticht und alles identifiziert, was nicht in diesen hochgradig abgesicherten Paragrafen-Palast gehört.
Ein unerwartetes Angebot
Grund meiner Anmeldung war diesmal nicht die Beobachtung einer Strafgerichts-Verhandlung, sondern eine Mail der Staatsanwaltschaft, die ich vor lauter Erstaunen mindestens zweimal durchgelesen hatte: Transparenz. Die Behörde der Staatsanwälte wartete aus heiterem Himmel mit einem "Angebot" auf: "Systematische Einsichtnahme in rechtskräftige Strafbefehle", hiess es im Betreff.
Ein Scherz, durchzuckte mich in ersten Moment ein Gedankenblitz. Ausgerechnet jene Behörde, die zu den verschwiegensten im Kanton zählt und darum unter einigen Journalisten etwas zugespitzt den Spitznamen "Dunkelkammer" trägt. Diese Dunkelkammer ihrerseits begründete ihre Stummheit bisher damit, dass sie ihre Arbeit ohne Beeinflussung von aussen, mediale Ermittlungskommentare und möglichst ohne Interventionen von Anwälten voranbringen will.
Es war aber kein Scherz: "Gerne informieren wir Sie im Folgenden über die Möglichkeit, systematisch Einblick in alle rechtskräftigen, von der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft erlassenen Strafbefehle nehmen zu können." Ab 2. August, so hoffte Mediensprecher Michael Lutz, "Ihnen mit diesem Modell eine praxistaugliche und benutzerfreundliche Lösung anzubieten".
Einsicht im abgeschlossenen Raum
Ich meldete mich also umgehend an und bekam am 4. August, 10 Uhr, den ersten Termin. Nach bestandenem Sicherheits-Check nimmt mich Thomas Lyssy freundlich in Empfang. Der Ort der Einsichtnahme befindet sich im zweiten Stock in einem kleinen Raum, aus dem es kein Entrinnen gibt: Beide Türen sind verschlossen und nur digital durch Autorisierte aufschliessbar. Einzig durch ein Türfenster, das einen dürftigen Blick in die Administrativabteilung erlaubt, ist etwas Tageslicht erkennbar.
Das zivile Gefängnis-Gefühl muss ertragen werden. Hier werden bei anderer Gelegenheit auch Originalakten gesichtet, die vor einem überraschenden Verschwinden geschützt werden müssen.
Wir Journalisten erhalten die Strafbefehle nicht bündelweise physisch zur Ansicht, sondern digital. Michael Lutz, der mir bei der Bedienung des Laptops die wichtigsten Anleitung gibt, mir an diesem Rekord-Hitzetag wiederholt ein Getränk anbietet und einige Abkürzungen ausdeutscht, hatte die geltenden "Spielregeln" schon in seinem Mail erklärt:
"Sie dürfen sich gerne Notizen machen, jedoch werden keine Kopien der Strafbefehle ausgefertigt und auch das Abfotografieren oder jede andere Form der Digitalisierung der Strafbefehle oder Teilen davon ist nicht gestattet. Ihre Einsichtnahme halten wir in einer internen Aktennotiz fest, welche auch die genannten Spielregeln sowie die Verpflichtung enthält, dass Sie bei der folgenden Berichterstattung den Journalistenkodex des Schweizer Presserats einhalten. Ihr Einverständnis bestätigen Sie uns mit Ihrer Unterschrift. Bitte beachten Sie, dass Sie sich gegebenenfalls als Journalistin oder als Journalist ausweisen können müssen (z.B. mit Ihrem Presseausweis). Weil wir Ihnen unser Vertrauen schenken, finden die Einsichtnahmen grundsätzlich unbeaufsichtigt statt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen müssen wir jedoch auf Anfrage von Betroffenen Auskunft darüber geben können, wem wir Zugang zu welchen Daten gewährt haben. Aus diesem Grund werden die Zugriffe auf die einzelnen Strafbefehle in einem Logfile mit Datum und Uhrzeit gespeichert."
430 Strafbefehle säuberlich aufgelistet
Man erkennt aus diesen Formulierungen, wieviel Sicherheits-Überlegungen und Hintergrund-Organisation erforderlich waren, um Journalisten zu erleichtern. Was reichlich bürokratisch klingt, ist im Kämmerchen rasch erledigt: Noch rasch per Unterschrift die Einsichtnahme bestätigen und dann geht's los.
Es stehen mir rund 430 ungeschwärzte Original-Strafbefehle zur Einsicht, die in den vergangenen drei Wochen Rechtskraft erlangt haben. Die Hauptfrage, die mich vor dem Besuch umtrieb war: Stosse ich durch die Einsichtnahme auf eine spannende Exklusiv-Geschichte?
Nun sitze ich also mit Block und Kugelschreiber da im Kunstlicht und sondiere als Erstes die 430 Namen. Klingelt es? Ein Promi? Das Straf-Ergebnis in einem Fall, der öffentlich zu reden gab?
Die Nadel im Heuhaufen
Das Ergebnis nach einer Stunde des Durchklickens durch die Word- und pdf-Dateien: ein weisses Blatt Papier. Recherchier-Erfolg: Null. Die Namen der Strafbefehl-Betroffenen: mehrheitlich ausländischer Provenienz ohne öffentliche Bekanntheit. Die Fälle: Überwiegend aus der Kategorie "GK" (Geschwindigkeitskontrolle), journalistisch nicht relevant, da nur geringfügige Tempoüberschreitungen von Lenkern, die die Busse nicht bezahlt haben und jetzt durch Auferlegung der Verfahrenskosten um ein Mehrfaches bluten müssen. Andere Fälle: öffentlich nicht von Bedeutung.
Mein erster Befund: Wer über den Weg der neugeschaffenen Einsichtnahme zum News-Knaller gelangen will, muss die Nadel im Heuhaufen finden.
Ob sich unter chronischem Zeitdruck stehende Medienschaffende angesichts der geringen Ausbeute alle drei Wochen zur Dateien-Sichtung im Muttenzer Kunstlicht-Zimmerchen anmelden, ist doch fraglich. Nach dem dritten erfolglosen Versuch dürfte das Interesse am Blick in die Straf-Dokumente rasch erlahmen.
Extrem defensive Informations-Praxis
Auch wenn die regionale Öffentlichkeit somit nicht damit rechnen kann, dank dem erleichterten Quellenzugang künftig regelmässig an sonst versteckt gebliebene Neuigkeiten heranzukommen – die Dienstleistung ist mehr als eine Alibi-Übung. Sie sollte ein Start in die digitale Kooperation zwischen Strafjustiz und Medienschaffenden sein.
Denn Strafverfolgungsbehörden wie auch Gerichte beschwören bei sich bietender Gelegenheit die Bedeutung der Medien als "öffentliches Auge" und Kontrollinstanz der hiesigen Rechtsprechung, als sichtbarer Beleg der "Justiz-Öffentlichkeit".
Und doch hören wir von Staatsanwälten und Gerichtspräsidenten, die sich über schlechte Präsenz der Medien in Gerichtssälen wundern. Dabei sind es genau die Justiz-Organe, die mit ihrem extrem defensiven Informations-Praxis die Medienschaffenden eher abschrecken als zur Teilnahme ermuntern.
Journalisten-Vorstoss wenig erfolgreich
Im Herbst 2018 versuchten verschiedene regionale Journalisten und akkreditierte Gerichtsberichterstatter, darunter auch der Schreibende, der Baselbieter Gerichtsleitung mit einem 14 Punkte-Antrag die Erleichterung der Arbeit beliebt zu machen. Das Erebnis war ein Reglement, das mehr oder weniger den Status quo festschreibt, jedenfalls nicht spürbar zur Arbeits-Motivation beiträgt.
Man stelle sich nur dieses Beispiel vor: Gerichtsberichterstattende müssen auch im Jahr 2022 die Anklageschrift am Ende der Verhandlung wieder abgeben und dürfen sie nicht als eine Basis ihrer Berichte verwenden. Diese prohibitive Bestimmung ist beispielhaft fragwürdig: Mit dem Entzug der Anklageschrift als einem der zentralen Prozess-Dokumente können sich Gerichte für unsorgfältige Berichte mitverantwortlich machen.
Grundlagen für seriöses Arbeiten fehlen
Die Strafjustiz hat bisher mit ihrem eigenen Verhalten dazu beigetragen, dass Medienschaffende die Lust an der Beobachtung ihrer Arbeit verloren haben. Der Grundsatz der "Justiz-Öffentlichkeit" besteht nach meiner Einschätzung weitgehend nur auf Papier, weil schon die Grundlagen für solides Berichten aus den Gerichtssälen fehlen.
Es muss der Redlichkeit halber auch gesagt sein, dass die Baselbieter Staatsanwaltschaft nicht aus reiner Erleuchtung durch die neuen Medien-Realitäten zum Entschluss kam, die Strafbefehle zugänglich zu machen.
Ihre baselstädtische Schwester-Organisation führte die Einsicht am Laptop für Journalisten schon letzten Herst ein – allerdings ohne dies zu kommentieren und wohl auch nicht freiwillig. Vielmehr dürften Interventionen von "SRG investigativ" zu einer Spur von Glasnost innerhalb der Anklagebehörden geführt haben.
Der Anfang des Online-Zugangs
Dass sich die Baselbieter Strafermittler mit Begeisterung zu diesem Schritt entschlossen haben, ist also nicht anzunehmen. Umso mehr ist diese Dienstleistung zu begrüssen. Sie signalisiert ein sanft wachsendes Bewusstsein, das Dunkelkammer-Image loszuwerden: Erstmals erhalten Medienleute direkten Online-Zugang zu Strafdokumenten.
Dieses Modell hat grosses Ausbau-Potenzial: An ihm sollten sich endlich auch die Gerichte orientieren und akkreditierten Berichterstattern über ein Login-Prozedere einen Online-Zugang zu Anklageschriften und Urteilsdispositiven ermöglichen.
Dem müsste fraglos die grosse Verantwortung der Medienschaffenden gegenüberstehen, mit den einsehbaren Dokumenten nach strengen Regeln der Vertraulichkeit und des berufsethischen Kodex des Presserates umzugehen – unter strengen Sanktionen im Verletzungsfall. Aber wenn Ermittler und Richterinnen schon mit der Medien-Präsenz als Beleg der "Justiz-Öffentlichkeit" hausieren, müssen sie den Medien die dokumentarischen Grundlagen anbieten, die diesen hehren Anspruch auch rechtfertigen.
Baselbieter Gesetz über die Information und den Datenschutz (Informations- und Datenschutzgesetz, IDG)
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8. August 2022
Weiterführende Links:
BL/BS: Unterschiede
Die Einsichtnahme beschränkt sich im Baselbiet auf jene Strafbefehle, die in den letzten drei Wochen Rechtskraft erlangt haben. Im Gegensatz zu Basel-Stadt, wo die Einsichtnahme während 30 Tagen nach Rechtsgültigkeit gilt, ist der Einblick in die Strafbefehle im Baselbiet unbeaufsichtigt.
Wer Einsicht in Dokumente wünscht, die schon vor der Frist von drei Wochen beziehungsweise 30 Tagen rechtsgültig geworden sind, muss den ordentlichen Weg über einen Antrag gemäss Informations- und Datenschutzgesetz (IDG) einschlagen.
Im Baselbiet werden durch die Staatsanwaltschaft jährlich tausende Strafbefehle ausgestellt. Im Geschäftsjahr 2021 wurden 70 Prozent aller Verfahren mit Strafbefehlen erledigt.
Die Anklagebehörde ist befugt, Strafbefehle bis zu einer Freiheitsstrafe von maximal sechs Monaten oder 180 Tagessätzen zu erlassen.