Parlamentarischer Anstand
Ich bin keine Juristin. Nicht einmal eine Hobbyjuristin, wie sich manche meiner Kolleg:innen im Grossen Rat selbst bezeichnen. Mein Herz schlägt nicht höher, wenn ich Gesetzestexte lese. Aber wer eine Debatte versachlichen will, sollte gelegentlich in die Gesetze schauen.
So steht in der Geschäftsordnung des Basler Grossen Rats unter "Präsidialaufgaben" Folgendes:
- "Die Präsidentin oder der Präsident, in seiner [sic] Vertretung die Statthalterin oder der Statthalter, leitet die Verhandlungen des Rats und des Ratsbüros. Sie oder er sorgt dafür, dass die Geschäftsordnung eingehalten und der parlamentarische Anstand gewahrt wird."
- "Die Präsidentin oder der Präsident orientiert sich bei der Wahrung des parlamentarischen Anstands an den in der Kantonsverfassung verankerten Grundrechten und Grundrechtszielen."
Die verankerten Grundrechte und Grundrechtsziele beinhalten zusammengefasst, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass niemand diskriminiert werden darf, nicht wegen der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der genetischen Merkmale, der ethnischen und sozialen Herkunft, der sozialen Stellung, der Lebensform, der sexuellen Orientierung, der religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugung oder wegen einer Behinderung.
Sie alle teilten den Grundsatz, dass Diskriminierung nicht geht. Punkt.
Ich habe in den vergangenen vier Jahren vier verschiedene Präsidien erlebt: von der FDP, den Grünen, der GLP und der SP. Natürlich wurde die Grenze des parlamentarischen Anstands von jeder dieser Personen an unterschiedlichen Stellen gezogen. Diese Linie zu definieren, erfordert Fingerspitzengefühl und Führungskompetenz. In Sekundenbruchteilen muss entschieden werden, ob eine Aussage diskriminierend ist oder nicht.
Ich habe grossen Respekt vor allen vier bisherigen Präsident:innen – dafür, dass sie diese Grenze immer wieder mit Bedacht gezogen haben. Ich war nicht immer einverstanden, mal war es mir zu lasch, mal zu streng. Aber eines wusste ich: Sie alle teilten den Grundsatz, dass Diskriminierung nicht geht. Punkt.
Und ich würde einmal behaupten, in Basel-Stadt besteht dieser Konsens über alle Parteien hinweg. Deshalb ist eine Wahl zum Statthalteramt oder zum Grossratspräsidium normalerweise eine Formsache.
Die SVP hat einen ihrer radikalsten Vertreter ins Rennen geschickt.
Nun denn, vergangene Woche hat das Parlament die von der SVP vorgeschlagene Person fürs Statthalteramt nicht gewählt, wie Sie auch bei OnlineReports lesen konnten. Die SVP hat mit Beat K. Schaller einen ihrer radikalsten Vertreter ins Rennen geschickt. Vom Kandidaten lagen eine Vielzahl von Voten und Posts in den Sozialen Medien vor, die herabsetzende und diskriminierende Äusserungen gegenüber Minderheiten sowie gegenüber politischen Gegner:innen beinhalten. Er hat Posts von Beatrix von Storch, eine der extremsten AFD-Politiker:innen, geteilt und Menschen, die sich für Gleichstellung einsetzen, als "Kinderschänder" und "totalitär" diffamiert.
Solche Aussagen sind in einer Demokratie schwer zu ertragen – aber sie existieren, und sie spiegeln eine Haltung wider, die auch in der Gesellschaft vertreten ist. Das müssen wir aushalten. Damit müssen wir umgehen. Das ist Demokratie.
Doch für ein Präsidialamt gelten andere Massstäbe: Wer eine solch hohe Repräsentationsaufgabe übernimmt, muss in der Lage sein, Grenzen zu ziehen – zwischen dem, was in einer politischen Debatte zulässig ist, und dem, was demokratische Normen und eben die Grundrechte verletzt.
Wir sollten die Repräsentationsfunktion ernst nehmen.
Dass 65 der 100 Grossrät:innen ihre Unterstützung verweigerten, macht deutlich: Der SVP-Kandidat konnte kein Vertrauen vermitteln, dass er die Grundrechte verteidigen würde.
Ich bin der Meinung: Auch wenn diese Wahlen normalerweise Formsache sind, sollten wir die Repräsentationsfunktion ernst nehmen. Beim nächsten Mal muss die SVP Verantwortung übernehmen und eine integrative Person vorschlagen – eine, die das Parlament überparteilich vertreten kann, die verbindet statt spaltet. Denn Demokratie ist ein hohes Gut, auf das wir Acht geben müssen.
10. Februar 2025
"Grenzen auch in Basel"
Danke, Melanie Nussbaumer, für diese wertvollen Zeilen. Tatsächlich: Es muss Grenzen geben, auch in Basel.
Annemarie Spinnler, Gelterkinden
"Ein Auslaufmodell"
Wer streiten will, braucht dafür einen Gegner und ein Objekt. Das ist bei den Parteien von Links über die Mitte bis nach Rechts nicht viel anders als beispielsweise beim Fussball. Für die Politik erweist sich dieses Muster bei Lichte betrachtet immer deutlicher als ein Auslaufmodell. Weil es in anspruchsvollen Sachfragen in der Regel nicht zu Entscheidungen führt, die allen Aspekten und den Bedürfnissen von allen bestmöglich entsprechen. Menschlich kann das bestehende System Kränkungen bewirken. Daran ändert sich grundsätzlich nicht viel: Auch wenn in extremis anstandshalber eine rote Karte gezeigt wird.
Ueli Keller, Allschwil