Soziale Mehrheiten nur dank Ausreisser
Politik macht mir Spass. Als extrovertierte Person schätze ich den Austausch mit Menschen, die unterschiedliche Hintergründe haben – sei es in der Partei, im Parlament oder mit der Zivilgesellschaft. Dabei treibt mich die Vision einer gerechteren Gesellschaft an, verbunden mit der Überzeugung, dass auch kleine Schritte in die richtige Richtung wertvoll sind.
Politik macht mir auch Freude, weil ich leidenschaftlich gerne diskutiere und um das beste Argument ringe. So habe ich mir die politische Arbeit im Parlament vorgestellt, als ich vor vier Jahren in den Grossen Rat gewählt wurde.
Doch merkte ich bald, dass diese Vorstellung nicht immer der Realität entspricht. Besonders in der Sozialpolitik stosse ich regelmässig an meine Frustrationsgrenzen – nicht, weil ich mit meinen Argumenten nicht immer "gewinne", sondern weil ich oft spüre, dass sich die andere Seite gar nicht erst mit dem Thema befassen möchte. Viele bürgerliche Vertreter:innen zeigen wenig Interesse daran, wie es Menschen geht, die nicht so viel haben, oder wie Armut entsteht. Noch weniger wollen sie sich mit den Details unseres komplexen Sozialsystems beschäftigen. Dieses Desinteresse verunmöglicht eine gute politische Debatte.
Natürlich gibt es auch im bürgerlichen Lager Ausnahmen.
Stattdessen bringen sie fast reflexartig die Eigenverantwortung ins Spiel, wenn es um sozialstaatliche Lösungen geht. Man sei doch selbst verantwortlich für die eigene Situation, heisst es dann. Dabei blenden sie komplett aus, dass es oft Schicksalsschläge wie Krankheit, Unfall, Trennungen oder Arbeitslosigkeit sind, die Menschen in die Armutsspirale ziehen. Ich bezweifle, dass diese Volksvertreter:innen einer Working-Poor-Familie ins Gesicht sagen würden, sie müsse einfach mehr Verantwortung übernehmen. Das wäre nicht nur zynisch, es würde auch die Kluft zwischen solchen Parolen und der Realität armutsbetroffener Familien entlarven.
Doch solange "Eigenverantwortung" als Argument herangezogen wird, können bürgerliche Kreise den Mythos aufrechterhalten, dass Wohlstand stets das Ergebnis harter Arbeit sei – und nicht auch das eines Startvorteils oder von Privilegien.
Natürlich gibt es auch im bürgerlichen Lager Ausnahmen. Ich bin dankbar, dass Grossrät:innen aus Mitte-Parteien immer wieder den Mut haben, ein soziales Anliegen zu unterstützen und sich damit über die Fraktionslinie hinwegzusetzen. So haben wir im Grossen Rat vor einem Monat den Regierungsrat beauftragt, ein Gesetz für Familien-Ergänzungsleistungen (Motion Bolliger und Konsorten) auszuarbeiten.
Solche Ergänzungsleistungen bestehen bereits in anderen Kantonen, und sie gelten als eines der effektivsten Instrumente gegen Kinderarmut. Diese Mehrheit kam nur zustande, weil einzelne Vertreter:innen aus Mitte-Parteien wie GLP, Mitte und EVP den Vorstoss unterstützt haben. Ohne solche "Ausreisser" gibt es in Basel-Stadt keine soziale Mehrheit – auch wenn Rechtspopulisten das anders darstellen.
Beratungsstellen helfen wenig, wenn es ab Mitte Monat kaum noch für Pasta und Reis reicht.
Natürlich steht Basel-Stadt in der Sozialpolitik besser da als Kantone mit noch grösseren bürgerlichen Mehrheiten. Das breite gemeinnützige Beratungsangebot – das sogenannte "soziale Basel" – ist ein wertvolles Merkmal unserer Stadt. Doch es täuscht oft darüber hinweg, dass das sozialstaatliche Netz trotzdem Löcher aufweist. Beratungsstellen helfen wenig, wenn es ab Mitte Monat kaum noch für Pasta und Reis reicht.
Basel-Stadt hat eine der höchsten Sozialhilfequoten von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Knapp jedes zehnte Kind lebt in einer Familie, die Sozialhilfe erhält. Hinzu kommen jene Familien, die Anspruch hätten, aber keine Hilfe beziehen – sei es aus Scham oder aus Angst vor migrationsrechtlichen Konsequenzen. Diese Familien leben unter dem Existenzminimum.
Dass in einer derart wohlhabenden Stadt wie Basel so viele Kinder in Armut aufwachsen, kann ich nicht akzeptieren – trotz der parlamentarischen Frustrationen, die diese Realität mit sich bringt.
Mein Fazit nach meiner ersten Legislatur lautet also: Für eine gerechtere Gesellschaft braucht es nicht nur gute Debatten und Argumente, sondern auch Mut und Beharrlichkeit. Und natürlich gutes Teamwork.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten und lasse Sie mit diesen Zeilen aus einem Lied zurück, das mich durch meine Kindheit begleitet hat und auch heute noch in den Schulzimmern meiner Kinder gesungen wird:
"Was isch das für e Nacht, het uns der Heiland brocht. Und uss den arme Mensche ryychi gmacht." (Zeller Weihnacht, Übersetzung ins Baseldeutsch von OnlineReports.)
(Oder für alle Atheist:innen unter uns der passende Satz unserer Bundesverfassung: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.")
16. Dezember 2024
"Gruppendruck und Gruppendynamik"
In diesem Artikel kann ich jedes Wort unterschreiben. Hat denn die Mehrheit der Rechtsbürgerlichen nie finanzielle Sorgen? Offenbar nicht, sonst würden sie sich stärker einsetzen. Oder sind die einfach in einem Ballon gefangen, von dem andere Meinungen ausgeschlossen werden? Und wenn es jemand tut, müssen Ausgrenzungen in Kauf genommen werden. Gruppendruck und Gruppendynamik wird dies genannt.
Ruedi Basler, Liestal