"BeReal": Der neue Zeitvertrieb am Handy
Zum Ende des Jahres möchte ich euch, als ob wir nicht schon genug Zeit auf den Sozialen Medien verbringen würden, ein neues Social Media vorstellen, das die Jungen dieses Jahr beschäftigt hat.
Speziell an dieser in Frankreich entwickelten App ist, dass sie – der Name "BeReal" sagt es schon – dazu auffordert, echt (also unmittelbar) zu sein. Darum geht es: Man kann jeden Tag einen einzigen Bildbeitrag teilen, wann, bestimmt die App. Dann gilt es ernst: Für die Fotoaufnahme aus der gerade vorhandenen Umgebung stehen nur zwei Minuten Zeit zur Verfügung.
Wundert euch also nicht, falls während den Festtagen alle Jungen am Tisch zur exakt gleichen Zeit plötzlich ihre Handys zücken, zuerst ein normales Foto schiessen und dann posierend darauf warten, bis wenige Sekunden später mit der Innenkamera automatisch ein Selfie aufgenommen wird. Die beiden Bilder werden dann zusammen – das Selfie oben links klein – gepostet und den Followern nur so lange angezeigt, bis sie irgendwann am nächsten Tag von einem neuen Post ersetzt werden.
Die Follower können währenddessen mit "RealMojis", ebenfalls in der Form von Selfies, und Kommentaren nur per Bild auf das Gezeigte reagieren.
"Ganz unkritisch gegenüber jedem neuen
Sozialen Medium sind wir aber auch nicht."
Bereits hier zeigt sich jedoch: So real wie versprochen ist die App dann auch nicht. Es gilt: je mehr Reaktionen, desto besser. Schliesslich sehen die anderen Follower, wer wie auf den Post reagiert hat. "Kannst du mal auf mein BeReal reacten, es sieht sonst so leer aus", hiess es deshalb in der WhatsApp-Nachricht eines Freundes, die ich letzte Woche erhielt.
Immerhin zählt mit den "RealMojis" statt "Likes" die Anzahl gezogener Grimassen. Das finde ich noch sympathisch.
Ganz unkritisch gegenüber jedem neuen Sozialen Medium ist meine Generation aber auch nicht. Gerade gegenüber der Zufälligkeit der App und dem Zwang, selbst etwas posten zu müssen, um die Beiträge der anderen zu sehen. Es kursieren bereits Memes, also Witze auf Sozialen Medien (wo denn sonst), "BeReal" sei ein digitales Panopticon, dem man sich selbst unterwerfe.
Immerhin ist es möglich, einen Post wiederholt aufzunehmen. Nur sieht man danach auch, wie oft ein "Retake" genommen wurde. Wie echt ein Post ist, lässt sich also messen. Trick für alle, die sich nach der Lektüre der Kolumne "BeReal" herunterladen: Einfach die App schliessen und die zweiminütige Frist beginnt von vorne. Auch die Anzahl Neuaufnahmen wird wieder zurückgestellt.
Je nach Alter wäre es aber ein bisschen peinlich, sich auf "BeReal" aufzuhalten. Selbst unter uns ist die App umstritten. Es gibt eine Spaltung zwischen jenen, die sie nutzen, und jenen, die sich ihr verweigern. Was solle sie schon interessieren, was du heute zu Abend isst und überhaupt sehe es bescheuert aus, wenn Zeit für "BeReal" ist und sich alle vor ihren Handys verrenken.
Ich selbst habe die App seit einem halben Jahr installiert. Jetzt Ende Jahr habe ich Freude daran, ein kleines Archiv mit fast täglichen Einträgen zu haben. Die eigenen Beiträge lassen sich im Gegensatz zu jenen der Follower auch nachträglich noch betrachten.
Mein Jahresrückblick zeigt Höhen und Tiefen: Spektakuläre, zugegeben sehr gezielt aufgenommene Bilder während den Sommerferien auf Interrail oder wie jetzt aktuell leider oft der Ausblick auf meinen Laptop in der Unibibliothek.
Einiges lässt sich aus den vergangenen "BeReals" aber auch lernen: Ich sehe rückblickend, in welchen Phasen ich mir längstens meine Haare hätte schneiden sollen.
19. Dezember 2022