Jung und Alt will sich nicht mehr verstehen
Ich nehme zurzeit an den Schweizermeisterschaften im Poetry Slam in Bern teil.
Das Publikum ist jung, urban, wahrscheinlich vegi – ein wenig alternativ halt. Nur vereinzelt mischen sich "Alte" darunter, die sonst eher im Literaturhaus anzutreffen sind und ihre Teenager-Kinder mitschleppen. Ich war auch mal einer dieser Kids, so "unfreiwillig" habe ich Poetry Slam kennengelernt.
Bei dieser Mischung von Leuten im Publikum merke ich immer wieder von Neuem, wie sehr sich die Sprache von Menschen in meinem Alter von derjenigen der älteren Generationen unterscheidet.
Woran ich das merke? Manchmal verstehen diese Leute meine Texte nicht.
Das liegt teilweise an den Anglizismen, teilweise an der unterschiedlichen Lebensrealität. Wenn ich von Phänomenen wie dem "Jawline-Flexen" spreche – dem Anspannen des Unterkiefers mit dem Ziel, dass die Gesichtszüge kantiger aussehen und man auf Fotos einen "männlichen" Eindruck hinterlässt – ist es voll okay, wenn ein Ü50-Urs in der zweiten Reihe nicht in Gelächter ausbricht.
Und wenn doch, dann vermutlich, weil seine Kinder ihm schon von der neusten Männlichkeits-Modellierung erzählt haben und nicht, weil er sich selbst ertappt fühlt. Das hoffe ich zumindest für ihn.
"Oft ist es verlockend, einfach
mit 'Okay, Boomer' zu antworten."
Gerade in der heutigen Zeit, wo oft über Sprache gestritten wird und viele aus älteren Generationen das Gefühl haben, die Jungen sprechen nur noch in Zitaten aus unverständlichen Internet-Trends, mache ich an Poetry Slams auch immer wieder schöne Erfahrungen.
Die sehen dann meistens etwa so aus, dass der Ü50-Urs nach dem Auftritt zu mir (oder anderen Aufgetretenen) kommt und meint, er habe zwar noch nie von dem Erzählten gehört, verstehe jetzt aber besser, was "uns" Junge umtreibt.
Das setzt aber voraus, dass die Älteren nicht schon im Vorhinein alles als Sprachverhunzung abwehren, was Anglizismen enthält. Umgekehrt verurteilen wir ja auch nicht alles, was aus der Ü50-Ecke kommt. Obwohl es oft verlockend ist, einfach nur mit "Okay, Boomer" zu antworten, wenn Leute unveränderlich an ihren Idealbildern aus dem letzten Jahrtausend festhalten.
Es braucht diesbezüglich ein wenig ein Entgegenkommen, dann verstehen wir uns auch in Zukunft noch. So entspricht beispielsweise selbst bei Poetry Slams das Publikum nicht immer der anfangs beschriebenen "Bubble". Wenn ich im Engadin oder Emmental auftrete – ja, Poetry Slam hat es selbst dorthin geschafft – passe ich meine Texte im Vorhinein ein wenig an. Denn zu viel möchte ich dem Ü50-Urs auch nicht zumuten.
25. April 2022
"Ich habe alles verstanden"
Ich kann Max Kaufmann beruhigen! Wir Mitte-Frauen organisierten einen Poetryslam zu den Themen Frauenstimmrech und Gleichberechtigung (Oktober 2021). Nach anfänglichem Zögern fanden sich denn sechs Poetryslammerinnen und -slammer. Zögern, weil sie erst fanden, sie würden nie mit einer politischen Partei einen Anlass machen. Obwohl es ja hier eindeutig um die Sache ging, um Themen die auch die junge Generation immer noch angeht.
Und siehe da: Der Saal war sehr voll, es kamen viele, viele Menschen (über 60 Personen), vor allem viele mit sehr grauen Haaren. Die jungen Slammerinnen und Slammer waren begeistert und bestätigten, sie hätten erstens schon lange nicht mehr vor so viel Publikum gestanden und zweitens sei das Publikum super gewesen. In der Tat, die Stimmung war emotional, lustig, aufgekratzt und das mit einem grossen Anteil an Publikum mehr als Ü50!
Es zeigt sich: man muss aufeinander zugehen können. Immer und immer wieder. Und als PS sei angefügt: Ich habe alles verstanden, obwohl ich schon ziemlich Ü50 bin.
Beatrice Isler, Basel
"Interessant und gut"
Die "jung-alt"-Beiträge von Max Kaufmann finde ich echt interessant und gut, weil sie zu denken geben, Zustimmung und Widerspruch wecken. Zumal wenn es eigentlich um "Alltägliches" geht, das schon seit 5'000 Jahren ein Thema ist; und wohl jeder "Alte" das (gegenseitige) Unverständnis vor ein paar Jahrzehnten selbst auch erlebt hatte, einfach nur anders.
So oder so – in einer "Bubble" befinden sich alle, irgendwie. Sprache verändert sich laufend, wobei ein neuer Begriff nicht grundsätzlich präzise trifft, sondern erstmal nur einer Richtung folgt, interpretiert werden muss.
Hazel Brugger hat Poetry das "Musical der Literaturszene, nur ohne Glamour" genannt, auch "Paralympics der Literatur". Ich (als "Alter", sogar "Vor-Boomer") finde, es trifft zu, würde es aber eher als "theatralischen Vortrag eines Aufsatzes" (oder Gedichts) bezeichnen; was natürlich eine Frechheit ist, weil ich so der "Kunst" (altersbedingt?) nicht genügend Tribut zolle.
Peter Waldner, Basel