![]() Lyrik ist wieder da – aber andersLyrik ist in meiner Generation wieder "in". Fast unvorstellbar: Junge Menschen lesen Gedichte. Nur tun sie das auf eine Weise, die sich Deutschlehrpersonen nicht erhofft hatten, als sie uns Goethe einprügelten: Statt in schwer zugänglichen, verstaubten Gedichtbänden, veröffentlichen Autorinnen und Autoren, die Leute in meinem Alter und auch jüngere erreichen, ihre Kurzgedichte als Instagram-Post.
Dichtende wie Rupi Kaur (auf Englisch) oder Max Richard Lessmann (auf Deutsch) haben zehntausende bis Millionen von Followern auf ihren Accounts – und sie posten nichts anderes als Kürzest-Gedichte. Bei Rupi Kaur ergänzt höchstens mal eine Illustration das Geschriebene, wobei der Inhalt auch ohne die Zeichnung mehr als deutlich wäre.
So offensichtlich und aus dem Alltag gegriffen sind diese Online-Gedichte, dass es nicht viel zu interpretieren gibt. Keine Äpfel weit und breit, die symbolisch für die Ursünde gedeutet werden können. Also wohl eher kein Input für die nächste Deutsch- oder Englischlektion, liebe Lehrpersonen. Zumindest wenn man sich auf die klassische Vorstellung, dass gute Lyrik fast unverständlich sein muss, beschränkt. "Die einen liken Instagram-Gedichte, Ich denke, es ist genau diese Zugänglichkeit, die diese Gedichte erfolgreich macht. Sie sind "relatable" – nachempfindbar – und stellen keine unnötigen Hürden in den Weg. Dass dann aus ästhetischen Gründen alle Buchstaben kleingeschrieben sind (Rupi Kaur), weil sich das Gedichtbändchen so besser auf einer weissen Bettdecke neben pastellfarbenen Duftkerzen und einer Smoothie-Bowl inszenieren lässt, kann verständlicherweise nervig sein.
Überhaupt ist es spannend, wie die einen in meinem Umfeld Instagram-Gedichte liken und teilen, während die anderen darüber lästern. Als ich mein WG-Zimmer neu in Schwarz-Weiss und Holztönen eingerichtet hatte, musste ich selbst darüber lachen, dass es wie ein Rupi-Kaur-Gedicht in Zimmerform aussieht.
Ich gehöre in diesem Thema tendenziell eher zur Läster-Fraktion und finde, dass man die Frage stellen kann, ob alles Lyrik ist, was mitten im Satz einen Zeilenumbruch hat. Lessmann schreibt zum Beispiel "Hast du dir/ Heute schon gesagt/ Wie schön du bist". Ja, das ist das ganze Gedicht. Mein ehemaliger Deutschlehrer hätte da einiges zu bemängeln – nicht nur das fehlende Fragezeichen.
So oder so: Die wenigsten graben regelmässig ihre Reclam-Heftchen aus dem Gymnasium aus. Und wenn sie es tun, dann wird das auch in einer Instagram-Story dokumentiert.
Soviel zeitgemässer als Klassiker sind "Instapoets" für uns junge Menschen. 22. November 2021
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