Der falsche Moment für Besinnlichkeit
Zum Jahresende fühle ich mich erschöpft und ausgelaugt. Mein ursprünglicher Plan für die Weihnachtszeit war deshalb, diese möglichst unangestrengt und für einmal ohne Krampf hinter mich zu bringen.
Das ideale Szenario: Ich besorge die Geschenke fürs Wichteln in der Familie für einmal rechtzeitig statt erst am letzten Sonntagsverkauf, gehe so den Menschenmengen aus dem Weg und starte ausnahmsweise nicht schon voller Groll in die Festtage. Unter dem Weihnachtsbaum mache ich einen grossen Bogen um politische Themen, um nach einer entspannten, besinnlichen Feier im alljährlichen Heiligabend-Ausgang die Erschöpfung der letzten Monate wegzutanzen. Danach halte ich Winterschlaf bis ins neue Jahr hinein.
So hatte ich ihn mir ausgedacht, den perfekten Plan, um die Festtage schadlos zu überstehen. Inzwischen merke ich aber: Diese Weihnachtszeit kommt zum falschen Moment.
Ich habe keine Lust auf ein "Fest der Liebe", das Harmonie beschwört.
Bei den politischen Ereignissen der vergangenen Wochen und Monate habe ich keine Lust auf ein "Fest der Liebe", das gemeinsames Innehalten zelebriert und Harmonie beschwört. Ich habe gerade wirklich keine Lust auf "Ihr Kinderlein kommet" im Wissen, dass die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat gerade nach Belieben Militärausgaben auf Kosten der internationalen Zusammenarbeit erhöht.
Es ist der falsche Moment für weihnachtliche Besinnlichkeit, weil diese schnell in den Hintergrund rückt, was in den Monaten zuvor politisch Thema war. Sinnbildlich dafür: Die Weihnachtsbeleuchtung löst die orangen Scheinwerfer, die auf öffentliche Gebäude wie den Bahnhof SBB gerichtet sind, um auf die "16 Tage gegen geschlechtsspezifische Gewalt" hinzuweisen, nahtlos ab.
Ich hoffe fest, im ganzen Weihnachtstrubel gehen diese Themen nicht vergessen. Beispielsweise, dass es erst einen SRF-Beitrag zu sexueller Belästigung durch Professoren an der Universität und eine Kundgebung vor dem Kollegienhaus braucht, bevor die Uni sich überhaupt dazu verpflichtet fühlt, Stellung zu nehmen. Hoffentlich täuscht sich die Universitätsleitung, wenn sie davon ausgeht, dass sich das über die Festtage schon wieder beruhigt.
Ich freue mich auch auf eine Pause.
Das hier ist keine Aufforderung, Onkel und Tanten unter dem Christbaum zur eigenen politischen Haltung zu bekehren. Natürlich können die Festtage – vor allem sobald der Familientrubel vorbei ist – eine willkommene Pause sein. In diesem Sinne wünsche ich ein gutes Innehalten. Ich freue mich auch auf eine Pause.
Wir sollten bei aller Besinnlichkeit nur nicht vergessen, was uns wütend macht.
9. Dezember 2024
"Das ist ungesund"
Doch, lieber Max Kaufmann, genau das sollten wir: über die Weihnachtstage vergessen, was uns wütend macht. Ich muss aus eigener Erfahrung berichten, dass ich mich ganz langsam über einen Crash in unserer Grossfamilie abregen muss, sodass am Weihnachtsabend der Frieden wieder einkehren kann. Denn der Mensch, auch der linke, braucht ein paar Tage oder wahlweise halt Stunden, um sich niederzusetzen.
Man braucht dabei nicht unbedingt Weihnachtslieder zu singen oder ein Fondue Chinoise zu essen. Aber man sollte diese Tage dazu nutzen, dankbar dafür zu sein, wie unglaublich gut es uns geht im Gegensatz zu all den bemitleidenswerten Geschöpfen in der Ukraine, im Nahen Osten, in Syrien oder auch im Männerheim in der Rheingasse.
Natürlich hilft das denen nicht. Aber uns persönlich. Und das ist genauso wertvoll. Weihnachten zu "verschieben" oder auszusetzen und den Bürgerlichen die Schuld in die Schuhe zu schieben – das ist ungesund.
Man kann den Opfern in den Entwicklungsländern oder in den Kriegsgebieten oder bei geschlechterspezifischen Gewaltakten ja ohne Weiteres ab dem neuen Jahr weiter gedenken, den Weihnachtsbatzen spenden oder auf die Strasse gehen.
Ich wünsche Ihnen trotzdem besinnliche Tage.
Daniel Thiriet, Riehen
"Trotz aller politischen Bedenken"
Herr Kaufmann hatte einen ausgezeichneten "perfekten Plan". Zerstört ihn dann selbst, weil er Mühe hat, demokratische Entscheide und Kompromisse zu akzeptieren? Ja – sogar "wütend" machen ihn Entscheide, die andere – zum Beispiel ich – vernünftig finden? Erkennt er denn nicht, die gefährliche internationale Lage? Politisch, wirtschaftlich und – eben auch – militärisch?
Klar – der "Krieg gegen Europa" (und die Demokratie) beschränkt sich momentan auf digitale Sperrfeuer und "kleine" Sabotageaktionen. Oder etwa darauf, Flüchtlinge zu "produzieren", um Westeuropa politisch und wirtschaftlich zu überfordern? Wohin führt die Zerstörung der Energieversorgung in der Ukraine, vor dem Winter, wenn nicht dazu, die Zivilbevölkerung zur Flucht zu bewegen?
Wohin führt die Strategie, Flüchtlinge nach Westeuropa zu drängen? Zur Demoralisierung der Werte, wie der Europäischen Flüchtlingskonvention? Oder "nur" zur wirtschaftlichen und finanziellen Schwächung? Oder etwa zur politischen Extremisierung der Demokratien? Ist der deutliche Rechtsrutsch in fast allen europäischen Demokratien für Herrn Kaufmann unsichtbar? Weil "rechts" und "bürgerlich" für ihn dasselbe ist? Er hat doch Politik studiert – erkennt er nicht die Parallelen zu den 20er- und 30er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts?
Ich empfehle, die weihnachtliche Besinnlichkeit – trotz aller politischen Bedenken – zu nutzen und zu geniessen. Wer weiss, wie lange wir sie noch haben.
Peter Waldner, Basel
"Stossgebet"
Lieber Herr Kaufmann, diesmal gehe ich vollkommen mit Ihnen einig. Genau DIESES Hadern mit dem "Fest der Liebe" habe ich seit 50 Jahren – die Themen sind einfach andere. Und das Nachdenken über die ganze religiöse Sache von Weihnachten verbiete ich mir strikt.
Ich will Ihnen mein Stossgebet "schenken" – vielleicht hilft es Ihnen auch:
Herr, lass' es Januar werden,
Dezember wird's von selbst.
Am Nigginäggi stossbete ich,
und am Dreikönigstag habe ich das grosse Aufatmen.
Rosemarie Mächler, Aesch