Die Generation, die sich nicht mehr ans Telefon getraut
Nachdem ich vergangene Woche die Bachelorprüfung überstanden habe, muss ich nun vor allem eines dringend angehen, das ich im Lernstress hinausgeschoben habe: meine Haare schneiden lassen. Bei der Suche nach dem passenden Coiffeur-Geschäft gibt es ein entscheidendes Kriterium. Der Termin muss online buchbar sein.
Beim Poetry Slam vor einem vollen Saal einen selbst geschriebenen Text mit persönlichem Inhalt vorzulesen, macht mich weit weniger nervös, als irgendwo anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren. Nichts finde ich unangenehmer, als nicht zu wissen, wer auf der anderen Seite am Apparat ist, und dann in die Stille hinein das Anliegen formulieren zu müssen.
Diese Scheu vor Telefonanrufen ist in meiner Generation weit verbreitet. Manchmal kommt vor, selbst wenn Freund*innen anrufen: Ich lasse es klingeln, bis die Anrufenden aufhängen, und frage dann per Chat: "Was gibt’s?"
Meine Generation hat sich daran gewöhnt, Dienstleistungen über Plattformen zu beziehen.
Die Abneigung gegen Anrufe variiert meinem Eindruck nach mit Alter und Generation: Während ich mich selbst und Gleichaltrige ab und zu dabei ertappe, Anrufen auf diese Weise auszuweichen, haben Freund*innen, die gegen die Dreissig gehen und an der Grenze zur Millennial-Generation stehen, keinerlei Scheu, jederzeit das Handy zu zücken.
In meiner Generation haben wir uns jedoch daran gewöhnt, Dienstleistungen im Alltag zunehmend über Plattformen zu beziehen: Die Sommerferien werden auf der modern und intuitiv gestalteten Hostel-Seite geplant, die Pizza wird beim Lieferdienst per Klick in der App und die Heimfahrt nach dem Ausgang bei Uber bestellt. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals per Telefon ein Taxi gerufen zu haben.
Zugegeben: Dass eine Generation Angst vor Telefonaten bekommt, wirkt skurril. Die stattdessen konsumierten Plattform-Dienstleistungen – Pizza, Uber – haben auch einen faden Beigeschmack. Es lässt sich nicht verdrängen, dass die Plattformen migrantische Personen ausnutzen, die durch einen unsicheren Aufenthaltsstatus umso mehr auf ein Einkommen angewiesen sind und sich deshalb auf die ungenügend versicherte Arbeit unter schlechten Bedingungen einlassen.
Per App lagern wir Aufgaben an andere aus, um die eigene Tageszeit bestmöglich zu nutzen.
Die Kritik älterer Generationen am Konsumverhalten "der Jungen" setzt aber oft auf der falschen Ebene an. Man bedauert, dass der direkte Austausch und das Gegenüber verloren gegangen sind, seit Dienstleistungen "per Klick" bezogen werden. Ich finde es nicht zielführend, eine Zeit vor den Smartphones zu romantisieren, in der alles "viel echter" gewesen sein soll.
Der zunehmende Bezug von Dienstleistungen über Plattformen kann jedoch als Symptom dafür gesehen werden, dass alles immer schneller gehen muss. Per App lagern wir Aufgaben an andere aus, weil es gilt, die eigene begrenzte Tageszeit so effizient wie möglich zu nutzen. Dieser Druck macht auch nicht vor anderen Generationen halt – und bereitet mir mehr Sorgen, als dass wir uns nicht mehr ans Telefon getrauen.
27. Mai 2024
"Nichts geht über ein persönliches Gespräch"
Ich bin nun schon eine alte, oder sagen wir mal ältere Frau. Die Möglichkeit, via eine Plattform etwas abzuwickeln, finde ich lässig. Gerade gestern haben ich Tickets für eine Aufführung bestellt und diese ganz easy mit Twint bezahlen können. Die Tickets liegen nun bereits von mir ausgedruckt bei der Agenda.
Aber nichts desto trotz geht bei mir nichts über ein persönliches Gespräch. Ich gehe ja immer zur selben Coiffeuse und machen den nächsten Termin jeweils vor Ort ab. Aber statt sich per Whatsapp zu "streiten" oder mit jemandem etwas zu vereinbaren und x-mal hin- und herzuschreiben, bevorzuge ich einen Telefonanruf. Ich höre dann die Stimme, die Modulation (geht es der Person gut oder schlecht), ich höre die Freude, den Ärger und kann allfällige Kommunikationspannen (man kann sich ja auch vertippen ...) ausräumen. Man kann auch gemeinsam nach einem Termin suchen und vieles mehr.
Für Dienstleistungen wie Taxi oder Pizza mag eine Online-Plattform gut sein. Das Gespräch mit Freundinnen und Freunden oder der Familie ist mir aber heilig.
Dazu kommt: Immer mehr Menschen klagen, sie seien einsam. Es gibt schon echt viele Programme gegen Einsamkeit. Kunststück, wenn alle nur noch hinter ihren Handys, Tablets oder Computer hocken, alles online bestellen und menschliche Kontakte – und sei es nur mit der freundlichen Verkäuferin im Laden – scheuen.
Seien wir ehrlich: Das mit der Argumentation, möglichst effizient zu sein, "verhebt" irgendwie nicht. Oder ist es effizient, wenn ich Kleider bestelle, die ich dann zurückschicken muss, weil sie mir doch nicht gefallen?
Beatrice Isler, Basel
"Ganz modern geworden"
Die Scheu beziehungsweise Abneigung vor Telefonanrufen – ich nenne es pseudowissenschaftlich die "Einbildung unter Telefonophobie zu leiden" – ist nicht neu. Bereits 1970 an meinem 20. Geburtstag trug ein guter Freund ein Spottgedicht über mich vor: "Lieber 100 Briefe schreiben, statt ein Telefon …"
Damals gab es noch nicht A- und B-Post, die Briefkästen wurden noch abends spät geleert und die Post am nächsten Morgen früh ausgetragen. Da kurzfristige Abmachungen heute per Brief nicht mehr möglich sind, erledige ich fast alles über E-Mail, WhatsApp oder Plattform und bin somit ganz modern geworden.
Rolf Stürm, Basel