Satan über dem olympischen Paris?
Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris. Ein Spektakel in einer Stadt, die sich für Inszenierungen eignet wie kaum eine zweite. Zum ersten Mal fand der Einzug der Athletinnen und Athleten nicht in einem Stadion statt, sondern auf der Seine, in einem farbenprächtigen Bootskorso. Einbezogen wurden die prächtigen Gebäude mit Reminiszenzen an die französische Geschichte, die Europa über Jahrhunderte prägte. Ein Höhepunkt war der Auftritt von Céline Dion mit dem Piaf-Lied "L'hymne à l'amour", das sie vom Balkon des Eiffelturms in die Welt hinaustrug.
In Erinnerung bleibt auch eine Szene, in der Dragqueens, queere Personen, ein Transgender-Model und ein blau bemalter, fast nackter Sänger, der den griechischen Weingott Dionysos verkörpern sollte, an einem Tisch ein frivoles Gelage nachstellten. Mit Verzögerung setzte in konservativen Kreisen ein Shitstorm ein, der in den sozialen Medien zum Orkan anschwoll.
Viele störten sich an einer vermuteten Persiflage des berühmten Wandgemäldes "Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci. Sie warfen den Organisatoren vor, im Wahn einer queeren Ideologie den christlichen Glauben verhöhnt und die Gefühle gläubiger Menschen verletzt zu haben. Der im olympischen Kontext nicht abwegige Hinweis des Regisseurs, man habe eine Götterparty auf dem Olymp darstellen wollen, wurde als Ausrede abgetan.
Auf Kosten der Gefühle anderer wird zelebrierte Toleranz zur Intoleranz.
Zu queeren Grossanlässen habe ich wenig Zugang. Deren Fokussierung auf die Geschlechtlichkeit ist mir häufig zu schrill. Die Betonung einer entsprechenden Gruppenidentität empfinde ich als stereotyp, teils ausgrenzend. Der lange Kampf queerer Menschen gegen Diskriminierungen durch die Mehrheitsgesellschaft machte ein Zusammenstehen in der Gruppe allerdings unerlässlich.
Über Geschmack lässt sich streiten. Ob sich die queere Community in dem bizarren Göttergelage wiedererkannte, ist offen. Richtig ist, dass auf Kosten der Gefühle anderer zelebrierte Toleranz zur Intoleranz wird. Das wird heute oft verkannt. Doch lassen die Kunst- und die Religionsfreiheit selbst als widerwärtig wahrgenommene Kritik an religiösen Inhalten zu. Das ist eine Errungenschaft der Aufklärung.
Die Flut an massiv überzogenen, primitiven, ja brutalen Reaktionen auf die besagte Szene zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation bei uns immer noch ist oder wieder werden könnte.
Sarah Regez, Fachfrau für Wokeismus in der SVP, schreibt auf X (vormals Twitter) von "schockierendstem Dreck". Unternehmensberater Markus Krall, vor Kurzem noch Mitglied in der vom früheren Präsidenten des deutschen Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maassen, geleiteten deutschen Werteunion, meint auf X: "Wenn diese pädophilen Satanisten so weitermachen, kommt man am Ende noch zum Schluss, dass an der Inquisition doch nicht alles schlecht war."
Heuchelei sei die Sprache des Teufels, meint Papst Franziskus.
Nicolas Rimoldi, selbsternannter Retter der Schweiz, stellt auf X einen Stromausfall in Paris, der die Basilika Sacré-Coeur verschont haben soll, in einen Bezug zur "satanistischen Eröffnungsfeier". Rimoldi dankt dem Mullah-Regime in Teheran, weil es "das Christentum härter verteidigt als Frankreich".
Den diskriminierten Christen und Juden im Iran, den Bahá'i und Kurden und den zahllosen iranischen Frauen, die, weil sie kein Kopftuch tragen, geschlagen, eingekerkert und getötet werden, dürfte das Lob im Hals stecken bleiben.
Schliesslich beklagt Martin Grichting, unter dem erzkonservativen Bischof Vitus Huonder bis 2019 zweiter Mann im Bistum Chur, die Olympia-Organisatoren hätten "an den Grundfesten des Westens gesägt" (NZZ vom 28.07.2024). In der langen Zeit des schlimmen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Würdenträger hörte man von Grichting, der Homosexuellen nahe legt, enthaltsam zu leben (SRF, Sternstunde Religion, 12.04.2015), nichts Vergleichbares.
Satan über dem olympischen Paris? Eher nicht. Heuchelei sei die Sprache des Teufels, meint Papst Franziskus in einer Predigt vom 15. Oktober 2019. Auch darüber könnte man nachdenken.
5. August 2024
"Ausgrenzung und Hass nehmen wieder zu"
Sehr lesenswerte, tolle Kolumne von Marc Schinzel zur Eröffnungsfeier der Olympiade in Paris. Schon den ungewöhnlichen Rahmen der Eröffnungsfeier fand ich faszinierend. Die vielen künstlerischen Darbietungen machten das Ganze zu einem einmaligen Event. Dass Dragqueens, quere Menschen und ein Transgender-Model prominente Auftritte hatten, verkörperte den olympischen Geist eindrücklich.
Ebenso eindrücklich im negativen Sinne waren schrille, teilweise inakeptabel agressive Hasstiraden gegen diese Menschen. Erstaunt haben mich diese Reaktionen aber nicht. Es ist leider so, dass Ausgrenzung und Hass wieder zunehmen und in gewissen politischen und religiösen Kreisen salonfähig sind – manchmal in einem Mass, das schon fast Angst machen kann.
Ob von Sarah Regez, Hans-Georg Maassen, Nicolas Rimoldi oder anderen Hasspredigern – die Botschaft ist immer dieselbe: beschimpfen, entwerten, ausgrenzen, drohen. Für eine Diskussion auf halbwegs akzeptablem Niveau reicht es nicht. Dafür sind die Sozialkompetenzen und intellektuellen Möglichkeiten dieser Damen und Herren wohl allzu bescheiden.
Thomas Zysset, Bolligen
"Zwei Seiten derselben Schrott-Medaille"
Die Olympiade und den Shitstorm dazu sehe ich als zwei Seiten derselben Schrott-Medaille. Entsprechen doch beide einer gigantisch und glorreich inszenierten Verwahrlosung der griechisch-römisch und jüdisch-christlich begründeten Raubtier-"Zuvielisation". Und es kommt noch schlimmer: Olympiade und Krieg sind beides Massenveranstaltungen, bei denen es im Kern gierig, herrsch- und vergnügungssüchtig sowie zerstörungswütig um Gewinnen oder Verlieren geht. Zum einen bis zur Goldmedaille. Und zum andern bis zum Tod.
Ueli Keller, Allschwil
"Lichtstrahl der Aufklärung"
Danke, Marc Schinzel, für diese differenzierte und engagierte Kolumne, in der ein Lichstrahl der Aufkläung aufleuchtet. Zur gesellschaftlichen, politischen und geistigen Aufhellung der Welt hat Frankreich in den vergangenen Jahrhunderten ja einiges beigetragen. Umso erfreulicher, dass die Eröffnung der Olympiade in der Cité des lumières davon auch ein eindrückliches Zeugnis ablegte. Dass dies nicht allen gefallen kann, wen wunderts? Es zeigt aber deutlich, dass der Aufbruch zur Aufklärung noch nicht passé ist ...
Christoph A. Müller, Basel