Keine direkte Demokratie ohne Vertrauen der Bevölkerung
St. Gallen, Sonntag vor einer Woche: Bei den Wahlen ins Stadtparlament wähnte sich die FDP als grosse Siegerin. Bei einer Gesamtzahl von 63 Sitzen meldeten die Wahlbehörden gleich vier Sitzgewinne. Der freisinnige Jubel war riesig. Trendwende, und das auf dem schwierigen städtischen Pflaster?
Der liberale Höhenflug dauerte keine 24 Stunden. Dann musste die Stadt einen groben Erfassungsfehler einräumen. Den Freisinnigen waren 2507 unveränderte Listen zugeschrieben worden – in Wirklichkeit waren es nur 1170. Rund 80'000 vermeintliche Stimmen lösten sich in Luft auf. Die FDP der Stadt St. Gallen landete hart in der Realität. Statt vier Sitzgewinnen resultierte ein Sitzverlust.
Innerhalb nur eines Jahres schnitzerten verschiedene Behörden schwer. Bei den nationalen Wahlen im Herbst 2023 verrechnete sich das Bundesamt für Statistik und meldete, dass die Mitte die FDP prozentual überrundet habe. Für künftige Bundesratswahlen ist die Parteistärke ein wichtiger Faktor.
Im Juni 2024 musste der Kanton Zug die Abstimmung über eine Transparenz-Initiative für ungültig erklären, weil auch ungültige Abstimmungszettel mitgezählt wurden, die sich später nicht mehr identifizieren liessen.
Verlegt? Aus Versehen weggeworfen? Gestohlen?
Besonders krass ist ein Vorfall in der Stadt Bern. Die dortige Stadtkanzlei teilte vor Kurzem mit, dass 1600 beglaubigte Unterschriften einer Volksinitiative zur Einführung eines Mindestlohnes nicht mehr auffindbar seien. Die Unterschriften waren nachweislich per Post eingegangen. Ein knappes Drittel von 5000 für städtische Volksinitiativen erforderlichen Unterschriften im Nirvana verschollen. Verlegt? Aus Versehen weggeworfen? Gestohlen? Von einer kriminellen Person vorsätzlich vernichtet? Die Stadtberner Behörden sind ratlos. Sie verlängerten in der Folge die Sammelfrist. Den Schwarzen Peter haben die Initiantinnen und Initianten. Sie sind nun gezwungen, weiter zu sammeln.
Beunruhigend sind auch im Herbst bekannt gewordene Fälle von Wahlfälschungen. Organisationen, die für Geld Unterschriften sammeln, haben diese mutmasslich begangen. Ihre Leute sollen Namen und Adressen von anderen Initiativbogen abgeschrieben und die Unterschriften gefälscht haben. Offenbar wurden sogar Initiativkomitees gedrängt, ohne Auftrag gesammelte Unterschriften zu kaufen.
Die zuständigen Behörden haben das erforderliche Mass an Sorgfalt sträflich vernachlässigt.
Die genannten Fälle sind mehr als simple Pannen, die passieren können, weil Menschen nun einmal Fehler machen. Sie sind schlicht stossend. Im hochsensiblen Bereich unserer demokratischen Mitwirkungsrechte haben die zuständigen Behörden das erforderliche Mass an Sorgfalt sträflich vernachlässigt.
Wenn einer Partei in einer einzigen Stadt mehrere Zehntausend Stimmen zu viel zugeschrieben werden, ohne dass es im Wahlbüro oder bei den Stadtbehörden sogleich auffällt, wenn bei einer Verwaltung Hunderte Unterschriften abhandenkommen, wenn sich die Fälschung von Unterschriften finanziell lohnt und – falls überhaupt – erst im Nachhinein erkannt wird, setzen wir das Vertrauen der Bevölkerung in das korrekte Handeln der Behörden aufs Spiel.
Vertrauen ist das Fundament unserer direkten Demokratie. Nur wenn Wählende und Abstimmende davon ausgehen können, dass ihre Willensäusserungen sorgfältig erfasst werden, sind sie bereit, sich aktiv einzubringen und auch Ergebnisse, die nicht in ihrem Sinn ausfallen, zu respektieren. Wo es hinführt, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in den Wahlprozess nachhaltig erschüttert ist, sehen wir in den USA.
Langwierige gerichtliche Abklärungen vermögen verlorenes Vertrauen nicht wiederherzustellen. Gerade in Zeiten, in denen ein aggressiver, autoritärer Staat wie Russland mit Desinformation und Propaganda unsere demokratischen Prozesse gezielt unterminiert, müssen wir unbedingt mehr tun, um krasse Fehlleistungen wie die geschilderten auszuschliessen.
Das Milizsystem, auf das wir auch in den Wahlbüros setzen, kann keine Entschuldigung für ein Weiter wie bisher sein.
30. September 2024
"Staatsverdrossenheit nimmt zu"
Wundert sich da noch jemand, dass die Staatsverdrossenheit bei solchen "Böcken" zunimmt? Siehe zum Beispiel auch bei der Wahlbeteiligung. Oder ist es doch so wie immer mehr nachdenkliche Bürger vermuten: Das sei gewollt, gewisse Parteien sind durch ein solches Verhalten der Bürger dann die Gewinner. Warum, dürfte ja klar sein. Dass dann solche Parteien sich bemerkbar machen mit Apellen an die Bürger, den Behörden doch zu vertrauen, möchte ich hier aus Anstandsgründen nicht weiter kommentieren.
Bruno Heuberger, Oberwil
"Viele Schatten"
Fehlleistungen, wie sie dieser Beitrag auflistet, scheinen mir lediglich die Spitze des Eisbergs einer Büro- namens Demokratie, die in einem System gefangen ist, das mehr und mehr leer läuft.
Perspektivenlos wählt etwa ein Drittel in Ländern wie der Schweiz und rundherum die AfD, die FPÖ, die Fratelli d'Italia, den Front national oder die SVP. Das ist bei der Wohlstandsverwahrlosung, wie ich sie bei der real existierenden parlamentarischen Parteiendemokratie erlebe, aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die, dass die anderen zwei Drittel kaum mit allen gemeinsam eine Politik zustande bringen, mit der ihr Land den ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen souverän gewachsen sein kann.
Eine Situation, die vor allem auf der Gefühlsebene viele Schatten bewirken kann. Mögen wir von Herzen aus Liebe und mit der Lichtkraft von Wut, Trauer, Angst, Scham und Freude in Frieden mit uns und der Welt leben: wie wir sind und sein werden.
Ueli Keller, Allschwil
"Einführung einer eigenhändigen Unterschrift"
Die aktuellen Diskussionen rund um Wahlen und Abstimmungen zeigen eindrücklich, wie anfällig die Mechanismen unserer direkten Demokratie sein können. Eine besondere Herausforderung stellt die briefliche Stimmabgabe dar. Unbestritten ist, dass diese Form der Wahlbeteiligung auf grosse Beliebtheit stösst. Doch ebenso wichtig ist es, Vorkehrungen zu treffen, um Missbrauch zu verhindern.
Erschreckend oft sieht man Wahl-Couverts in Hauseingängen entsorgt oder unbeaufsichtigt herumliegen. Eine mögliche Lösung wäre die Einführung einer eigenhändigen Unterschrift, wie sie bereits in einigen Nachbarkantonen erfolgreich praktiziert wird. Dies würde den Behörden die Überprüfung der Echtheit der abgegebenen Stimmen erleichtern und Manipulationsversuche erschweren.
In einer Zeit, in der das Vertrauen in politische Prozesse zunehmend schwindet, müssen wir dafür Sorge tragen, dass unsere Wahlen und Abstimmungen nicht nur bequem, sondern vor allem sicher und glaubwürdig bleiben. Denn letztlich lebt die Demokratie vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Integrität.
Alexander Gröflin, Basel