Tschau – häbs besser
Bern ist schön. Die mittelalterliche Altstadt mit ihren pittoresken Sandsteinhäusern, lauschigen Lauben und reich verzierten Brunnen. Das Bundeshaus mit seiner einladenden Terrasse hoch über der Aare, von der man an sonnigen Tagen einen umwerfenden Blick auf die Alpen geniesst, auf das schneebedeckte "Dreigestirn" Eiger, Mönch und Jungfrau. Mehr Schweiz geht kaum. Näher am sinnstiftenden Grund der freien, demokratischen und friedlichen Eidgenossenschaft, die sich – auf die schöpferische Kraft ihrer Bevölkerung vertrauend – 1848 zum Bundesstaat zusammenschloss, kann man nicht sein.
Wer mit der Bahn nach Bern fährt, kommt allerdings kaum ins Schwärmen. Der Bahnhof ist dunkel und grau – eine abweisende Betonkonstruktion aus den 1970er-Jahren, bei der man sich fragt, wer das je schön finden konnte. Die Unterführung ist zweckmässig. Viel Food, Billigklamotten, Kiosk, Last-Minute-Buchhandlung, elektronische Fahrpläne und rötlich beleuchtete Mauerreste aus der Zähringerzeit, die etwas verloren dastehen. Leute kommen und gehen hastig geradeaus, wie von einem Navigationsgerät gesteuert, den Blick streng nach vorn, die Kopfhörer auf. Es ist unangenehm eng in den Stosszeiten.
Dann geht da plötzlich einer vor dir durch, quer zum Strom, elend langsam auch noch. Er sucht zögernd Blickkontakt. Eine flache Wollmütze hat er tief in die Stirn gezogen. Der Mann trägt eine schwarze, stark abgenutzte Lederjacke, schmutzige Jeans, hat ein ungepflegtes Bärtchen und einen stoppeligen Schnauz. Seine Gesichtszüge und seine raue Haut sind gezeichnet von harten Tagen und noch härteren, wohl auch kalten Nächten. Mir fallen die tiefen Augenhöhlen und die dunklen Augenringe des Mannes auf, dessen Alter ich auf etwas über vierzig Jahre schätze. Obdachlos, vermutlich in den Alkohol und/oder die Drogen geraten, so der rasche Eindruck.
Nie hört man ihn klagen oder schimpfen.
So ausgezehrt er wirkt: Sein Blick ist warmherzig, sanft, fast entschuldigend, wenn er in der Hoffnung, etwas Geld zu erhalten, ungelenk auf die Passanten zugeht, die ihm ausweichen. Nie hört man ihn klagen oder schimpfen.
Ich begegne ihm immer wieder auf meinem Arbeitsweg in die Bundesstadt oder zurück nach Basel. Seine Präsenz ist vertraut. Er gehört zur Unterführung, zum Berner Alltag jenseits von Büro, Parlamentssessionen und Touristengruppen aus aller Welt. Auch ich weiche ihm immer wieder aus.
Er spiegelt meine Stimmungen: Jetzt bitte nicht, ich bin geistig grad voll absorbiert. Schön, dass Du auch wieder da bist, wir packen das Leben! Ich möchte Dir helfen, aber das tut die Stadt sicher schon professionell. Wenn Du mein Geld für Alkohol oder Drogen ausgibst, schade ich Dir nur. Eher selten gebe ich etwas.
Im vergangenen Dezember, nach einem erfolgreichen Tag beschwingt auf dem Weg nach Hause an ihm vorbeieilend, kehre ich um und drücke ihm ein paar Franken in die Hand. Es fühlt sich richtig an.
Einer, der uns in die Quere kam, unseren Weg kreuzte, wenn wir forsch geradeaus eilten.
Es ist das letzte Mal. Am 7. Februar sehe ich dort, wo er jeweils stand, verschiedene Fotos von ihm. Er blickt uns an, lächelnd, mit grossen, lebendigen Augen, seine Wollmütze in der Stirn. Daneben Blumen, handgeschriebene Karten und Kerzen, angelehnt an die metallenen Abfall- und Recyclingbehälter der SBB. Ein letzter Gruss.
Ich sprach nie mit ihm, leider. Nun erhält er für mich einen Namen. Ich lese eine eng beschriebene, bewegende Abschiedskarte einer Schulfreundin. Sie habe ihn gern gemocht in der Schule. Er sei lustig und feinfühlig gewesen. Die Wege hätten sich getrennt. Im Bahnhof sei sie ihm wieder begegnet. Es tue ihr leid, dass er es nicht mehr geschafft habe, aus seiner Situation herauszukommen. Er bleibe ihr als warmherziger, liebenswerter Mensch in Erinnerung.
Abschied von einem Menschen, der vermisst wird, im Bahnhof der schönen Stadt Bern, wo die Zeit meistens drängt. Einer, der uns in die Quere kam, unseren Weg kreuzte, wenn wir forsch geradeaus eilten. Wo wollten wir hin?
Auf einem Foto, eingerahmt von liebevoll gezeichneten blauen Blumen, steht: Tschau – häbs besser.
19. Februar 2024
"Bewegende Worte über einen fremden Menschen"
Die Kolumne lässt mich nicht mehr los. Bewegende Worte über einen fremden, unbekannten Menschen. Ich bin überzeugt, dass er es nun besser hat. Es sei ihm gegönnt.
Danke dem Verfasser und danke OnlineReports.
Christof Amsler, Tenniken