Primitives Hauen und Stechen auf X
15. Januar 2025: Viola Amherd kündigt ihren Rücktritt an. Die Bundesrätin hat wie ich ein Konto bei X (vormals Twitter). Sie beziehungsweise ihre Medienbeauftragten posten hier die Rücktrittsmeldung.
Nun setzt ein, was auf X leider immer normaler wird: Neben Dankesbekundungen und guten Wünschen kommen reihenweise Kommentare aus den untersten Schubladen.
Ein paar Muster:
"Verlassen die Ratten das sinkende Schiff? Jetzt wo sie [Bundesrätin Amherd] mit der Hyäne der EU [gemeint ist Ursula von der Leyen] Scheisse gebaut hat, zieht sie Leine" (übersetzt aus dem Französischen). "Da war offenbar der Volks- und Landesverrat zu gross". "Sie und viele andere gehören vor ein Tribunal". Über einem Foto der Bundesrätin mit Wolodimir Selenski heisst es: "Viola Amherd ist eine Landesverräterin. Zum Glück ereilt auch sie der Elendsky-Fluch". Die Titulierung als "Landesverräterin" kommt immer wieder. Ganz am Ende der tiefen Skala steht der folgende, unterirdische Wunsch: "[Ich] hoffe sehr, sehr, dass sie [sic] bald krank werden und noch sehr lange sehr stark leiden müssen. Für mich sind sie [sic] weniger wert als das [,] was mein Hund hinten raus lässt."
Fäkalflüche runden das sprachliche Trümmerfeld ab.
Dieser Hass trifft nicht nur Viola Amherd. Bundesrätin Karin Keller-Sutter eröffnete für ihr Präsidialjahr ein X-Konto, um über ihre Tätigkeit zu informieren. Hater nutzen dies auf ihre Weise. Zu einem Post über den Empfang des diplomatischen Korps im Bundeshaus: "Ukro Nazis waren auch dabei great jop" [sic]. Zu einem Post über den Auftritt der Bundespräsidentin in der SRF-Sendung "Arena", in der über die politischen Themen im neuen Jahr gesprochen wurde: "Sie sind eine Schande und eine Verräterin unseres Landes!". Besonders enthemmt waren die Posts nach einem Tweet über ein Telefongespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski, das dieser gewünscht hatte: "Unser Bundesrat ist ein Scheisshaufen". Die Bundespräsidentin wolle nur ihre private Kasse füllen. Putin solle die Ukraine übernehmen. Fäkalflüche runden das sprachliche Trümmerfeld ab.
Ich meldete den "Hunde-Tweet" gegen Viola Amherd bei X. Laut X-Richtlinien ist es unzulässig, jemandem Schaden zu wünschen. Es ist zwar möglich, Inhalte zu melden, doch bin ich nicht sicher, ob und wann jemand solche Meldungen sichtet. Eigentümer Elon Musk beleidigt Mitglieder der deutschen und der britischen Regierung auf X reihenweise. Bundeskanzler Scholz = "fool", Bundespräsident Steinmeier = "anti-democratic tyrant", Premierminister Starmer = "Komplize bei der Vergewaltigung von Grossbritannien", der "ins Gefängnis" gehöre (übersetzt aus dem Englischen).
Wieso thematisiere ich diese unflätigen Äusserungen auf einer privaten Plattform? "If you can't stand the heat, get out of the kitchen", meinte einst US-Präsident Truman. Wenn du die Hitze nicht erträgst, geh aus der Küche.
Die Sozialen Medien sind kein rechtsfreier Raum.
Niemand muss auf X präsent sein. Diverse Behörden, Parteien und auch Kantone haben sich schon zurückgezogen, weil für sie der informative und kommunikative Mehrwert wegen der zunehmend primitiven, sinnfreien Anfeindungen nicht mehr gegeben ist. Auch Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter wird sich nach ihrem Präsidialjahr wohl wieder von X verabschieden, wie sie sagte.
Worauf wir aber bestehen müssen: Die Sozialen Medien sind kein rechtsfreier Raum. Menschen, die haltlos diffamiert und deren Persönlichkeitsrechte grob verletzt werden, müssen sich zur Wehr setzen können. Erst recht geht es nicht, wenn auf X die Glorifizierung Hitlers, verbaler und bildlicher Judenhass im Stil der Nazi-Hetzpostille "Stürmer" und Holocaust-Leugnungen verbreitet werden. Das ist leider der Fall, obwohl X in den Richtlinien festhält, die Entmenschlichung von Personengruppen und die Leugnung gewalttätiger Ereignisse würden nicht geduldet.
In den USA mögen die Gesetze solches zulassen. In der Schweiz sind das Straftatbestände. Wir haben ein Interesse daran, solchen Entgleisungen einen Riegel zu schieben. Ich bleibe auf X, und ich bleibe dran.
20. Januar 2025
"Feige Anonymität"
Ich frage mich oft, ob dieser primitive Stil in den (unkontrollierten) Sozialen Medien nicht einfach mit dem guten, alten Stammtisch gleichzusetzen wäre, bei dem die Diskussionen durchaus auch oft ähnlich primitiv sein konnten und gelegentlich in einer Schlägerei endeten. Natürlich ist es einfacher, in der Anonymität der "modernen Stammtische", sozusagen aus der Ferne, wo man sich nicht in die Augen sehen muss, seine primitive, unzivilisierte Haltung auszuleben.
Wie könnte man dem begegnen? Indem man die Anonymität aufgeben müsste? Offen mit Name (und Adresse) zu seinen Aussagen stehen müsste?
Jedenfalls darf man die – sicher sehr grossen – Nachteile der Sozialen Medien nicht als Massstab alleine nehmen. Die Vorteile sind nicht zu verachten. Nur: Die feige Anonymität macht das Problem aus!
Peter Waldner, Basel
"Dranbleiben kann krank machen"
Wir leben in einer Welt, die von Gier, Herrsch- und Vergnügungssucht sowie von Zerstörungswut geprägt ist. X ist ein Teil dieser Welt, in der dranbleiben krank machen kann. X mit seiner Manifestation von Rücksichtslosigkeit und Zerstörungswut ist deshalb ebenso wenig mein Ding wie beispielsweise der ESC, den ich als eine Manifestation von Gier und Vergnügungssucht sehe.
Mit einer Mehrheit von Dummen (die nicht wissen, was sie tun), Gleichgültigen (denen eh alles Wurst ist), Schlauen (denen nur wichtig ist, was ihnen selber nützt) und Gemeinen (die dafür andere über den Tisch ziehen), kann es sowohl für die Demokratie als auch für die Menschenwürde schwierig werden.
Ueli Keller, Allschwil
"Warum ist es so geil?"
Marc Schinzel hat recht. Wir sollten dagegenhalten. Wenn es nur nicht so anstrengend wäre!
Das bringt mich zu folgenden Fragen:
Warum ist es völlig "easy", Hassreden und Verunglimpfungen zu posten? Warum haben hasserfüllte Meinungen mehr Macht als demokratische Aussagen oder vermittelnde Beiträge? Warum ist es als Leserin oder Leser so "geil", wenn jemand sich traut, auf anderen Personen rumzuhacken? Haben wir verlernt, einen vernünftigen, wertschätzenden Diskurs zu halten? Und wann steht die Mehrheit der Menschen – diejenigen, die wertschätzend unterwegs sind – auf und zusammen und wehrt sich gegen diesen Hass? Wo bleibt der Mut?
In diesem Sinne: Danke, Marc Schinzel, dass Sie dranbleiben. Ich versuch es auch.
Beatrice Isler, Basel